Auf einen Blick
- Syrische Rebellen stürzen Assad-Regime. Neue Situation bringt Unsicherheit für Region
- HTS-Führer al-Julani distanziert sich von extremistischer Vergangenheit, Zukunft bleibt unklar
- Iran verliert wichtigen Verbündeten, Türkei in starker Position gegen Kurden
Syrische Rebellen haben innert weniger Tage die Hauptstadt Damaskus eingenommen und das Regime unter der 24-jährigen Gewaltherrschaft von Baschar al-Assad gestürzt. Dieses Ende markiert gleichzeitig einen Neubeginn für Syrien, der sich auch auf die gesamte Region auswirken wird. Wie dieser aussehen wird, muss sich allerdings erst noch zeigen. Blick erreichte Professorin Elham Manea (58) von der Universität Zürich und stellte der Politikwissenschaftlerin, die auf den Nahen Osten spezialisiert ist, die drängendsten Fragen.
Warum war Assad jetzt so schwach? Warum hat die Armee nur noch so wenig Widerstand geleistet?
Elham Manea: Assad war zu diesem Zeitpunkt so schwach, weil die syrische Armee stark demoralisiert war und nicht mehr bereit war, für das Regime zu kämpfen. Diese Demoralisierung wurde verstärkt durch die Schwächung von Hisbollah, die Ablenkung Russlands durch den Ukraine-Krieg und Irans Herausforderungen durch israelische Angriffe. Zudem waren die alawitischen Generäle in der Armee nicht bereit, ihre Reihen entschlossen zu mobilisieren. Die Kombination aus interner Demoralisierung, geschwächten Verbündeten und fehlender Unterstützung durch die eigene Führung führte dazu, dass die Armee kaum Widerstand leistete.
Was bedeutet es, wenn nun sunnitische Islamisten die Herrschaft im Vielvölkerstaat übernehmen?
Wenn HTS (Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham) die Herrschaft in einem Vielvölkerstaat übernimmt, stellt sich die Frage, wie tragfähig ihre Ankündigungen tatsächlich sind. Die Gruppe spricht von religiöser Vielfalt und betont, dass sie religiöse Minderheiten nicht so behandeln werde wie ISIS, das für extreme Gewalt und Verfolgung bekannt war. Doch bleibt unklar, ob diese Minderheiten als gleichberechtigte Bürger behandelt werden oder ob ihre Rechte weiterhin eingeschränkt bleiben.
Diese Frage ist entscheidend, um zu beurteilen, ob eine solche Haltung zu einer breiteren politischen Einigung führen könnte. HTS bleibt eine Koalition verschiedener islamistischer Bewegungen, vereint durch das Ziel, das Assad-Regime zu stürzen. Ob sie diese Einheit wahren können und bereit sind, echte politische Kompromisse einzugehen, oder ob Machtkämpfe wie in Libyen ausbrechen, bleibt offen. Letztendlich müssen wir abwarten, ob die Rhetorik von Vielfalt und Inklusion zu konkreten politischen Lösungen führt.
Wie schätzen sie HTS-Führer Abu Mohammed al-Julani ein?
Abu Mohammed al-Julani, geboren als Ahmed Hussein al-Sharaa, unternimmt deutliche Anstrengungen, sich von seiner früheren Unterstützung für den IS und seiner Mitgliedschaft bei Al-Kaida zu distanzieren. Er präsentiert sich zunehmend als Führer, der gemässigter und pragmatischer agiert, um sowohl innerhalb Syriens als auch international Anerkennung zu gewinnen.
Ein wichtiger Aspekt seiner Neupositionierung ist seine Rhetorik, die auf die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat abzielt – eine Botschaft, die in der Region und in Europa auf Zustimmung stösst. Diese Bemühungen werden durch sein äusseres Auftreten unterstrichen: Er trägt nun eine militärische Uniform, um Autorität und Staatsnähe zu symbolisieren. Zudem verwenden nun einige arabische Medien seinen bürgerlichen Namen Ahmed al-Sharaa, um sich von seiner dschihadistischen Vergangenheit zu distanzieren.
Die zentrale Frage bleibt jedoch, ob diese Veränderungen lediglich Rhetorik sind, um die internationale Gemeinschaft zu besänftigen, oder ob sie tatsächlich einen grundlegenden Wandel in seiner Ideologie und Strategie widerspiegeln. Die Zeit wird zeigen, ob seine Absichten authentisch sind oder ob er, ähnlich wie die Taliban in Afghanistan, langfristig zu einem radikaleren Kurs zurückkehrt.
Werden die Rebellen mit den Kurden Frieden schliessen, oder könnte Syrien nun in mehrere Teile zerfallen?
Ob die Rebellen mit den Kurden Frieden schliessen oder Syrien in mehrere Teile zerfällt, bleibt unklar. Die Türkei, als Hauptunterstützer von HTS, lehnt eine autonome kurdische Region strikt ab. Gleichzeitig verfolgt HTS das Ziel, ganz Syrien zu übernehmen, was Konflikte mit den Kurden wahrscheinlicher macht. Pro-türkische Milizen greifen derzeit kurdische Gebiete wie Manbidsch an, was zu schweren Kämpfen, humanitären Krisen und Tausenden von Binnenvertriebenen führt. Frühere Vereinbarungen zwischen HTS und den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) über die Rückkehr kurdischer Flüchtlinge wurden durch diese Angriffe gestoppt. Zusätzlich verschärft das Wiederaufleben von ISIS-Zellen in Syrien die Unsicherheit. Ob HTS Stabilität schaffen oder interne Konflikte wie in Libyen entstehen, bleibt abzuwarten.
Die Türkei ist nun in einer starken Position. Was möchte Erdogan in Syrien erreichen?
Die Türkei befindet sich derzeit in einer starken Position, und Präsident Erdogan verfolgt in Syrien klare strategische Ziele. Im Fokus steht die kurdische Frage: Ankara will eine autonome kurdische Region an der Grenze verhindern, da die Türkei dies als Bedrohung für die nationale Sicherheit betrachtet. Durch militärische Operationen wie «Friedensquelle» und die Unterstützung pro-türkischer Milizen versucht die Türkei, kurdische Kräfte wie die SDF zurückzudrängen und Sicherheitszonen zu schaffen.
Darüber hinaus strebt Erdogan danach, die Türkei als regionale Grossmacht zu positionieren. In Syrien sieht er eine Gelegenheit, den iranischen Einfluss zurückzudrängen, insbesondere durch die Unterstützung sunnitischer Oppositionsgruppen. Dies ist Teil eines umfassenderen Ziels, die Vormachtstellung des Iran in der Region einzuschränken.
Was bedeutet der Sturz Assads für den Iran? Nach der Schwächung der Hisbollah verliert Iran nun einen weiteren Verbündeten.
Der Sturz Assads bedeutet eine tiefgreifende Neuordnung der regionalen Machtverhältnisse und einen schweren Rückschlag für den Iran. Seit der US-Invasion im Irak 2003 und den arabischen Aufständen 2011 konnte der Iran seinen Einfluss in der Region erheblich ausweiten und seine regionale Strategie durch Stellvertretergruppen stärken. Mit der Schwächung der Hisbollah und der Hamas sowie dem Wegfall Syriens als zentralem Verbündeten und als Frontstaat der iranischen Politik gegen Israel und regionale Rivalen ist die Position des Iran jedoch stark ins Wanken geraten.
Obwohl der Iran weiterhin auf Al-Hashd al-Shaabi im Irak und die Huthi-Bewegung im Jemen zählen kann, ist dies zweifellos ein historischer Wendepunkt. Es ist das Ende der Assad-Dynastie, die Syrien seit 1970 regierte, und ein deutliches Zeichen für den geschwächten Einfluss Irans in der Region. Diese Entwicklungen könnten eine Neujustierung der regionalen Machtbalance mit weitreichenden geopolitischen Konsequenzen einleiten.
Ist Russland in Panik, seine Militäreinrichtungen, die Luftbasis und den Marinestützpunkt am Mittelmeer zu verlieren?
Angesichts dieser Entwicklungen ist Russland zweifellos besorgt über den möglichen Verlust seiner Militärbasen in Syrien. Der Verlust dieser Stützpunkte würde nicht nur die militärische Präsenz Russlands im Nahen Osten erheblich schwächen, sondern auch seine geopolitischen Ambitionen in der Region untergraben. Es bleibt abzuwarten, welche Massnahmen Moskau ergreifen wird, um seine Interessen in Syrien zu schützen und seine strategischen Positionen zu sichern.
Was bedeutet die neue Situation für Israel?
Die neue Situation in Syrien bringt für Israel eine ambivalente Ausgangslage mit sich. Das Motto «Der Feind meines Feindes könnte trotzdem mein Feind sein» beschreibt die komplexe Dynamik treffend. Israel hat stets versucht, den Einfluss des Iran und seiner Verbündeten wie der Hisbollah zu minimieren, was den möglichen Sturz Assads zunächst wie einen Vorteil erscheinen lässt. Doch die Frage bleibt, welche Kräfte danach die Kontrolle übernehmen werden.
Israels Hauptfokus liegt darauf, Sicherheit entlang seiner Grenze zu gewährleisten und jede Bedrohung seiner Interessen proaktiv anzugehen. Die Unsicherheit über die zukünftige Machtverteilung in Syrien zwingt Israel in eine abwartende Haltung. Besonders dschihadistische Gruppen wie HTS könnten langfristig eine Gefahr darstellen, auch wenn sie aktuell im Konflikt mit iranischen und Assad-loyalen Kräften stehen.
Angesichts dieser Unsicherheiten bleibt Israel wachsam, während es gleichzeitig versucht, Entwicklungen zu seinem Vorteil zu nutzen und mögliche neue Bedrohungen frühzeitig einzudämmen.
Was heisst das für die syrischen Flüchtlinge in der Schweiz?
Für die syrischen Flüchtlinge in der Schweiz bedeutet die aktuelle Situation momentan nicht viel. Es ist noch zu früh, um abzusehen, wie sich die Lage in Syrien entwickelt und ob sich dadurch langfristig Perspektiven für eine Rückkehr in die Heimat ergeben könnten. Vieles hängt davon ab, wie stabil die Nachkriegsordnung in Syrien sein wird und ob die Sicherheit und politische Lage eine Rückkehr ermöglichen. Bis dahin bleibt es eine Frage des Abwartens und Beobachtens der weiteren Entwicklungen.