Es ist ein Schicksal, das jetzt viele Russen verbindet: der Weg von der Vorladung bis zur Beerdigung. Viele Russen wurden in die Ukraine eingezogen und kehrten nie wieder nach Hause zurück. 300'000 Reservisten mussten an die Front ziehen. Das verkündete der russische Präsident Wladimir Putin (70) vor einem Jahr. Wie ein Recherche-Team des russischen Investigativportals Istories gemeinsam mit dem Conflict Intelligence Team (CIT) herausfand, überlebte jeder fünfte Gefallene keine zwei Monate.
Mindestens 130 Menschen starben im ersten Monat nach Putins «Teil-Mobilmachung». Die Analysen von CIT basieren auf Daten von öffentlichen Berichten über Todesfälle. Sie zeigen: Die 3000 offiziell vermeldeten Toten überlebten im Schnitt nur 4,5 Monate Krieg. Kaum einer der Getöteten lebte länger als elf Monate.
Angehörige berichten, dass die Mobilisierten teilweise ohne Training an die Front gingen. «Praktisch ohne Vorbereitung wurden sie nach Cherson geschickt», sagt ein Mann aus Tschejabinsk (Russland). Dahinter steckt eine perfide Taktik des russischen Militärs.
Viele Opfer jünger als 25 Jahre
«Anfangs füllten die mobilisierten Soldaten Lücken, um den Zusammenbruch der Front zu verhindern», so das CIT. Eine Taktik, die viele unerfahrene Männer ihr Leben kostete. Besonders viele Verluste gab es auf Basis der 3000 analysierten Todesfälle während der Übergangsjahreszeiten. Vergangenen Herbst befand sich Russland noch in der Offensive. Im Frühling begann die Ukraine damit, Gebiete zurückzuerobern.
Im Schnitt sind die Verstorbenen 33 Jahre alt – viele Männer hinterlassen Familien mit Kindern. Aber es gibt auch Einzelfälle von Jüngeren und Älteren an der Front. Der jüngste gefallene Soldat war 19 Jahre alt. Dass vor allem jüngere Menschen einberufen werden, liegt daran, dass ihr Militärdienst nicht so lange zurückliegt und sie fitter sind. Jeder zehnte Gefallene an der Front war jünger als 25 Jahre. Ausserdem wurden vor allem Männer in armen Regionen Russlands mobilisiert – etwa aus Samara, Burjatien und Tatarstan. Dort zählt man die meisten Opfer.
139 Tote in einer Nacht
«Sie werden zu Hackfleisch. Viele Menschen sind über dem Schlachtfeld verteilt, sodass man sie gar nicht mehr zusammensetzen kann», sagte die Frau eines Mobilisierten im Januar, als russische Truppen im verbitterten Kampf um Makijiwka in Donezk steckten. In einer Nacht starben 139 Soldaten, darunter auch Freiwillige. Auch in der Schlacht um Bachmut im Frühjahr wurden mindestens 40 Wehrpflichtige in einer Nacht geopfert. «Das zeigt einmal mehr, dass eben nicht nur Wagner-Söldner an der Eroberung der Stadt beteiligt waren», sagt ein Experte vom CIT.
Die hohe Anzahl der Verstorbenen ist auch auf die Fehler im Militär zurückzuführen. «Heute wurde unsere alte Stellung wieder gestürmt. Alle unsere Leute wurden getötet. 200, 300 Soldaten. Wir sind einfach nur Kanonenfutter hier», heisst es in einem abgehörten Telefonat von einem russischen Soldaten. Immer wieder bemängeln Offiziere oder Soldaten, dass es an Ausrüstung fehlt oder Kämpfer in den sicheren Tod entsandt werden.
Das CIT analysierte im Bericht offizielle Zahlen aus den Medien – doch die Dunkelziffer der Gefallenen ist weitaus höher. Wichtig zu beachten ist, dass nur die Zahlen der 3000 gefallenen Soldaten analysiert wurden. Genaue Daten zu allen Opfern in der Ukraine gibt es kaum – und wenn, sind diese auffallend gering. «Solange es keine Leiche gibt, gibt es Hoffnung», wird den Angehörigen gesagt. Ohne Leichnam haben diese aber auch keinen Anspruch auf Versicherungszahlungen. (jwg)