Nach den Kriegsgräueln
Wie lebt es sich weiter in Butscha?

Schwere Kriegsverbrechen ereigneten sich in der ukrainischen Stadt Butscha. Ein Besuch vor Ort zeigt, dass sich die Erlebnisse tief ins Gedächtnis der Bevölkerung eingebrannt haben – und dass der Alltag trotzdem weitergeht.
Publiziert: 27.10.2022 um 10:04 Uhr
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Aktualisiert: 27.10.2022 um 10:19 Uhr
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Die Stadt Butscha in der Nähe von Kiews wurde Opfer von schweren Kriegsverbrechen.
Foto: keystone-sda.ch

Der ukrainische Bäcker Jaroslaw Burkiwskyj (28) bietet seine Brote neuerdings in einer russischen Waffenkiste an. Die feindlichen Soldaten haben die Behälter haufenweise zurückgelassen, als sie vor mehr als einem halben Jahr überstürzt aus dem Umland der Hauptstadt Kiew abrückten.

Nun steht eine der Kisten in Burkiwskyjs kleinem Häuschen am Rande der Stadt Butscha. Sie ist aus Holz, in militärischem Grün angestrichen und etwa einen Meter lang. Sie ist hoch genug, damit Dutzende Brote hineinpassen, und tief genug, damit sie oben noch ein Stückchen herausgucken und Kunden anlocken. Ein perfekter Aufbewahrungsbehälter, sagt Burkiwskyj. «Wir hätten natürlich trotzdem nur zu gerne darauf verzichtet.»

Symbol für schwerste Kriegsverbrechen

Butscha und weitere Kiewer Vororte waren direkt in den ersten Kriegstagen Ende Februar von Russlands Truppen erobert und rund einen Monat lang besetzt gehalten worden. Als die Russen sich schliesslich angesichts ausbleibender militärischer Erfolge in Richtung Ostukraine zurückzogen, wurden in dem Gebiet Hunderte getötete Zivilisten gefunden – teils mitten auf der Strasse. Fotos von Leichen mit Folterspuren und auf dem Rücken gefesselten Händen gingen Ende März um die Welt. Und auch, wenn seitdem viele weitere Gräueltaten ans Licht kamen: Kaum ein anderer ukrainischer Ort ist in dem seit mehr als acht Monaten andauernden russischen Angriffskrieg so stark zu einem Symbol für schwerste Kriegsverbrechen geworden wie Butscha.

Zu einem Bekannten seien russische Soldaten nach Hause gekommen und hätten ein Gewehr auf ihn gerichtet, erzählt Burkiwskyjs Bäcker-Kollege Viktor Kowaltschuk. «‹Jetzt erschiessen wir dich›, haben sie gesagt.» Geschossen habe einer dann tatsächlich – aber nur auf die Mütze auf dem Kopf des Bekannten, erzählt Kowaltschuk. Ein «Scherz» sei das gewesen, hätten die Russen gesagt und seien wieder gegangen. «Solche Sachen sind hier passiert», sagt Kowaltschuk. Es gibt frische Haferkekse. Draussen ist es kühl und regnerisch, drinnen in der Hütte dank des Ofens mollig warm. Immer wieder kommen Kunden.

In den ersten Wochen nach der Besatzung ist die kleine Bäckerei mit den blauen Fensterläden zu einem Ort des Zusammenhalts der Überlebenden geworden. Nachbarn brachten Mehl aus ihren privaten Vorratskammern vorbei, erinnert sich Burkiwskyj. Gebacken wurde daraus Brot für alle. Wer konnte, zahlte. Wer nicht konnte, bekam es geschenkt. «In dieser schrecklichen Zeit haben die Menschen verstanden, dass sie nicht alleine sind auf dieser Welt. Manche hat das verändert», sagt der 28-Jährige.

90 Prozent der Bevölkerung flohen

Verändert hat der Krieg auch das Leben von Dmytro Haptschenko (45), dem Chef der Stadtverwaltung. Als im März mehr als 90 Prozent der einst rund 50'000 Einwohner von Butscha und Umgebung flohen, blieb der 45-Jährige aus Pflichtgefühl gegenüber denjenigen, die auch noch da waren. Mittlerweile sollen etwa 30'000 Menschen wieder zurück sein – nicht aber Haptschenkos Frau und die gemeinsamen Kinder, die es nach Israel geschafft haben und dort das derzeit nicht absehbare Kriegsende abwarten wollen. «Es ist schwer», sagt er.

Haptschenko hat leicht ergraute Haare, er wirkt müde und kämpferisch zugleich. Er trägt eine dunkelgrüne Outdoor-Jacke und robuste Wanderschuhe, kommt gerade zurück aus einem Waldstück, wo erst kürzlich die Leiche eines vermissten Bewohners gefunden wurde. Nun suchen er und andere Helfer dort nach Spuren, die auf die Identitäten der russischen Soldaten schliessen lassen – und nach weiteren Gräbern. Haptschenko zeigt das Foto eines Erdlochs auf seinem Handy. Es ist Dokumentationsarbeit, die auch derzeit laufende internationale Ermittlungen und die offizielle Anerkennung der Gräueltaten als Kriegsverbrechen beschleunigen soll.

Diese Arbeit macht er ehrenamtlich. Im März war auch er von den Besatzern entführt und rund einen Tag lang festgehalten worden. Dass er schliesslich wieder freigelassen wurde, sei wohl pures Glück gewesen, erzählt er. Über die Toten im Wald sagt Haptschenko: «Das hätte auch ich sein können.» Er macht eine kurze Pause, dann sagt er: «Wenn es so gekommen wäre, würde ich mir wünschen, dass man mich jetzt findet.»

Luftalarm verliert Schock-Wirkung

Nur wenige Meter entfernt steht eine grosse weisse Kirche mit goldenen Kuppeln, die an diesem Herbsttag vor dem grauen Himmel besonders hervorstechen. Während der Besatzungszeit wurden getötete Bewohner notdürftig auf dem Kirchengelände in einem Massengrab verscharrt, weil der Weg zum Friedhof versperrt war. Mittlerweile sind sie umgebettet worden. Einige von ihnen kannte er persönlich, sagt Haptschenko, von anderen die Eltern, die Kinder, die Freunde.

Draussen herrscht Luftalarm – seit einigen Tagen schon greifen Russlands Truppen auch Kiew und die Umgebung wieder massiv mit Raketen und Kampfdrohnen an. Das Interview geht trotzdem weiter. Wer erlebt hat, was Haptschenko erlebt hat, den bringt ein bisschen Sirenengeheul nicht mehr aus der Fassung, scheint es.

Auf seinem Handy zeigt er weitere Fotos. «Sie hier wurde mitten auf der Strasse erschossen» – die Leiche einer älteren Frau erscheint auf dem Telefon-Display. «Sie trug eine weisse Binde am Oberarm, sehen Sie?», Haptschenko zoomt näher an den toten Körper heran. «Sie wollte deutlich zeigen, dass sie Zivilistin ist.»

Eine andere Bewohnerin sei beim Versuch, die Stadt zu verlassen, von russischen Soldaten an einem Checkpoint erschossen worden – durch die geöffnete Fensterscheibe am Steuer ihres Autos. Wieder ein Foto, wieder eine Leiche. Haptschenko wischt weiter auf seinem Handy, es scheint kein Ende zu nehmen.

Insgesamt haben die Behörden in Butscha bislang mehr als 460 getötete Einwohner registriert, befürchten aber noch deutlich mehr Opfer. Trotz des Grauens: Das Leben in der Kleinstadt geht heute weiter. Handwerker streichen frisch reparierte Hausfassaden neu an. Cafés haben geöffnet, Menschen führen ihre Hunde Gassi, Kinder toben im Stadtpark. Innerlich aber seien viele Menschen weiter in einem «psychologischen Stresszustand», sagt Haptschenko.

Ständig klingelt sein Handy. Es ist Privattelefon, Dienstgerät und kommunale Notfall-Hotline in einem. Noch immer melden sich Menschen bei ihm, die Angehörige vermissen. Manche tauchen irgendwann lebend in russischer Gefangenschaft wieder auf, andere tot in Butschas Wäldern. Von mehr als 70 Mitbürgern, so sagt Haptschenko, fehlt bis heute jede Spur. (SDA)

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