Tausende Quadratkilometer Land hat die ukrainische Armee in den vergangenen Wochen zurückerobert. Seit September nähern sich die ukrainischen Truppen immer mehr der Stadt Cherson im Süden des Landes an.
In den vergangenen Tagen häuften sich die Meldungen, wonach sich die russischen Truppen von Wladimir Putin (70) mehr und mehr aus der Stadt zurückziehen. Andererseits gibt es auch gegenläufige Berichte darüber, dass Russland seine Einheiten sogar noch verstärke.
Tatsächlich könnte es sich dabei um eine gezielte strategische Entscheidung handeln, meint Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Geheimdienstes. In einem Interview mit der ukrainischen «Pravda» sagte Budanow, derzeit deute alles darauf hin, dass sich Russland auf einen Stellungskrieg vorbereite.
Putin will Prestige-Stadt halten
Auch Militärexperte Marcel Berni (34), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich, geht nicht davon aus, dass Russland die Stadt Cherson kampflos den Ukrainern überlassen wird. «Die Stadt ist für das Prestige der russischen Führung zu wichtig, um einfach fallen gelassen zu werden», sagt Berni zu Blick. «Ich gehe daher davon aus, dass Putin es wohl zu einer Schlacht kommen lassen wird.»
Die russische Militärführung stecke derzeit im Dilemma, so Berni weiter. Aus militärischer Sicht mache es nur bedingt Sinn, die Stadt mit allen Mitteln zu verteidigen. Viele Versorgungswege seien unterbrochen, die Truppen in der Stadt können nur noch bedingt mit Nachschub versorgt werden. «Klar ist aber: Aus politischer Sicht muss Russland alles versuchen, um die Stadt zu halten. Das hat mit Prestige zu tun. Cherson ist eine der ersten gefallenen Städte, ein Vorzeigeobjekt der russischen Offensive.»
Aus ukrainischer Sicht sei es genau deswegen umgekehrt äusserst wichtig, die Stadt wieder unter Kontrolle zu bringen. Berni spricht sogar von der «wichtigsten Schlacht der vergangenen Monate», die sich bei Cherson abspielen könnte. «Die Ukrainer könnten das ‹Juwel des Südens› befreien und hätten nachher fast alle Gebiete westlich des Dniepr wieder unter Kontrolle. Das wäre aus strategischer und psychologischer Sicht enorm wichtig.»
Wohl keine Dammsprengung
Derzeit sind die russischen Truppen in Cherson fast vollständig von der Versorgung abgeschnitten. In den vergangenen Wochen hat die ukrainische Armee Brücken über den Dniepr unpassierbar gemacht. Russland muss sich demnach höchstwahrscheinlich auf eine temporäre Brücke aus Lastkähnen verlassen und auf militärische Ponton-Fähren.
Aufgrund der prekären Verhältnisse mehren sich die Befürchtungen, dass Russland den Kachowka-Damm nahe Cherson sprengen könnte. Das Staubecken hat ein Fassungsvermögen von 18,2 Milliarden Kubikmeter Wasser. Zum Vergleich: Der grösste Staudamm in der Schweiz, der Grande Dixence im Kanton Wallis, hat ein Fassungsvermögen von 400 Millionen Kubikmeter.
Eine Sprengung des Kachowka-Damms hätte eine gigantische Flutwelle zur Folge, 80 Dörfer würden überschwemmt. Dass es so weit kommt, glaubt Militärexperte Berni aber nicht. «Eine solche Überflutung würde ein Kriegsverbrechen grossen Ausmasses darstellen. Zudem würden die Russen auch von ihnen kontrollierte Gebiete überfluten. Eine Sprengung wäre aus russischer Sicht also eher kontraproduktiv.»