Mit diesem Mann hat bei der Rumänien-Wahl niemand gerechnet
Europa hat ein neues Problem

Bis vor kurzen war Calin Georgescu ein Unbekannter. Am Sonntag holte der prorussische Rechtsaussen-Politiker die meisten Stimmen bei der Präsidentschaftswahl in Rumänien. Damit hatte niemand gerechnet. Journalist Dorin Chiotea erklärt, wie es zur Überraschung kam.
Publiziert: 26.11.2024 um 20:42 Uhr
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Aktualisiert: 26.11.2024 um 23:26 Uhr
Diesen Mann hatte niemand auf dem Zettel: Der prorussische Rechtsaussen-Politiker Calin Georgescu (62) hat den ersten Wahlgang der rumänischen Präsidentschaftswahlen gewonnen.
Foto: keystone-sda.ch
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Daniel JungRedaktor News

Es ist ein politisches Erdbeben: Der parteilose Rechtspopulist Calin Georgescu (62) hat überraschend den ersten Wahlgang der rumänischen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Mit 22,9 Prozent der Stimmen ist er in die Stichwahl eingezogen.

Von seinen Konkurrenten und den klassischen Medien wurde der Anti-Eliten-Kämpfer weitgehend ignoriert. Meinungsforscher hatten seinen Erfolg nicht erwartet. Dafür war er sehr professionell auf TikTok unterwegs. Für den Westen birgt der unerwartete Erfolg im EU- und Nato-Land Rumänien erhebliche Risiken.

Mit 19,2 Prozent auf dem zweiten Platz landete die prowestliche, liberale Elena Lasconi (52) von der Reformpartei USR. 

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Mit Kritik an Polit-Eliten und an der Nato erreichte Calin Georgescu 22,9 Prozent der Stimmen.
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Erst dahinter folgen die Kandidaten der Regierungsparteien. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Marcel Ciolacu (56) kam bei der Präsidentenwahl nur auf Platz drei – knapp hinter Lasconi.

«Der Sieg in der ersten Runde schien für den Ministerpräsidenten nur eine Formalität zu sein», sagt Dorin Chiotea, Chefredaktor von «Libertatea», der meistgelesenen Newsplattform Rumäniens, die wie Blick zu Ringier gehört. Jedoch habe der Ministerpräsident entscheidende Fehler gemacht, Korruption geduldet, zweifelhafte Luxusreisen unternommen und im Ausland arbeitende Rumänen beleidigt. «Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht», sagt Chiotea. «In den sozialen Netzwerken ist die Wut der einfachen Leute exponentiell gewachsen.» 

Guter Redner, tadellos gekleidet

Wahlsieger Georgescu, stets tadellos gekleidet und im Ton treffsicher, stelle sich dagegen auf die Seite der einfachen Leute. «Er verspricht ein Land für alle, nicht nur für korrupte und diebische Politiker», so Chiotea. 

Das Ergebnis ist ein Misstrauensvotum gegen die etablierten Parteien. Chiotea erwartet nun einen weiteren Erfolg von Rechtsaussen an der Parlamentswahl vom nächsten Sonntag (1. Dezember).

Die Stichwahl zwischen Georgescu und Lasconi findet dann eine Woche später statt. «Analysten sehen Georgescu, der keinen Partei-Apparat hinter sich hat, bei maximal 35 Prozent», sagt Chiotea. «Aber darauf würde ich mich nicht verlassen.» Die Kraft der sozialen Netzwerke könne für eine Überraschung sorgen. «Georgescu geht dort ultra-viral», so der Chefredaktor. 

Unzufriedenheit trotz Wirtschaftswachstum

Trotz 2,1 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2023: Viele Rumänen sind unzufrieden über die ungleichmässige Entwicklung im Land und die hohe Inflation. Das Land mit 19 Millionen Einwohnern gilt als eines der ärmsten Europas. Es ist seit 2004 Mitglied der Nato und seit 2007 in der EU. 

Rumänien war bisher ein wichtiger Unterstützer des nördlichen Nachbars Ukraine und spielt eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Ostflanke der Nato.

Auf TikTok präsentierte sich Wahlsieger Georgescu als starker Führer, echter Rumäne und quasi von Gott gesandt. «Er ist Impfgegner und ein intellektueller Verschwörungstheoretiker», sagt Chefredaktor Chiotea. Georgescu sei ein Populist mit der Ausstrahlung eines mystisch-religiösen Predigers.

«Sollte Georgescu Präsident werden, wird das Image Rumäniens einen immensen Schaden nehmen», befürchtet Chiotea. Der Mann sei unberechenbar. Deshalb werde die Mobilisierung in der Stichwahl wohl gross ein. 

Sorgen in Brüssel, Freude in Moskau

Georgescu forderte ein Ende der Ukrainehilfe, kritisierte EU und Nato heftig. Im Visier hat er etwa die Nato-Raketenabwehrbasis in Deveselu, westlich der Hauptstadt Bukarest. Er sagte: «Der Deveselu-Schild ist eine diplomatische Schande.» Das Abwehrsystem habe das Land «in einen Konflikt hineingezogen, den wir nicht gebraucht hätten». Georgescu betrachtet den Krieg primär als Angelegenheit zwischen der Ukraine und Russland. 

In Berlin, Brüssel und Washington dürfte man die Wahl daher mit Sorge betrachten, im Kreml sich dagegen freuen. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Novosti nannte Georgescu einen «Unterstützer einer Allianz mit Russland». 

Am Wahlabend sagte Georgescu auf einer via Facebook übertragenen Pressekonferenz, das rumänische Volk sei «zum Bewusstsein erwacht» und habe seinen Willen bekundet, «nicht weiter auf Knien, nicht weiter unter Invasion, nicht weiter erniedrigt» zu bleiben. 

Im Fokus von Ermittlungen

Wegen des Vorwurfs der Verherrlichung faschistischer Kriegsverbrechen ermittelt die rumänische Staatsanwaltschaft gegen Georgescu. Er hatte den ehemaligen Diktator Ion Antonescu (1882–1946) und den Anführer der faschistischen Eisernen Garde, Corneliu Zelea Codreanu (1899–1938), als «Märtyrer» bezeichnet.

Daneben rühmt Georgescu häufig die orthodoxe Kirche und benutzt Bibelzitate. Der promovierte Agrarwissenschaftler arbeitete für die rumänische Regierung als Experte in Umwelt- und Ernährungsfragen. 2010 bis 2012 war er Uno-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und gefährliche Abfälle. 2015 und 2016 war er als Exekutivdirektor des Global Sustainability Index Institute der Uno in Genf und Vaduz tätig.

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