Am Samstag war Britannien für einmal wieder so gross, wie es einst war. Die Welt schaut zu, wenn sich der Inselstaat mit seinem 74-jährigen neuen König selbst feiert. Grund zum Feiern gab es in den letzten Jahren jedoch kaum.
Es steht nicht gut um die einstige Weltmacht. Zweistellige Inflationsraten lassen die Preise für Lebensmittel, Energie und Mieten explodieren. Viele Pubs, Shops und Büroflächen sind verrammelt, für immer geschlossen. Mehr als sieben Millionen Menschen warten auf einen Arzttermin. Kaum eine Woche vergeht ohne grösseren Streik.
Auf einen kalten Winter folgte ein düsterer Frühling: Der Internationale Währungsfonds hat prophezeit, dass keine andere entwickelte Nation dieses Jahr weniger Wachstum erzielen wird als Grossbritannien. Sogar Russlands Wirtschaft geht es besser.
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich
Das Einzige, was derzeit im Königreich wächst, ist die Ungleichheit: Es gibt mehr Milliardäre denn je, gleichzeitig lebten noch nie so viele Briten in Armut. Mittlerweile gibt es im Land mehr «Foodbanks», Lebensmittelabgaben für Bedürftige, als McDonald’s-Filialen. Jede vierte Familie im Land hat zu wenig zu essen. Vor einem Jahr war es erst jede achte.
Es sind die Mittelständler, die ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können, die ihre Wohnung verlieren, von Essensspenden abhängig sind. Es trifft nicht die Ränder des Königreichs, seit jeher strukturschwache Regionen. Die neue Armut ist selbst im Zentrum sichtbar, in London, Touristenmagnet, internationale Finanzmetropole und Nationalstolz.
Zina Alfa (30) hat einen Master in Wirtschaft und Politik sowie einen Job in der Finanzindustrie. Doch vor wenigen Wochen zog sie zurück zu ihren Eltern in den Londoner Stadtteil Grove Park. Die Jungen trifft es besonders: Sie können sich wegen der Dauerkrise kaum mehr Eigentum leisten und sind ihren Vermietern mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Die Miete von Alfas WG in East London hat sich innert eines Jahres fast verdoppelt: von 700 auf 1300 Pfund.
Sie erzählt es in einem Café. Das Pub gegenüber hat vor kurzem geschlossen. Auf dem Trottoir vor dem Café muss ein Obdachloser von Polizisten gestützt werden. Einem anderen Mann fällt Geld aus der Tasche, er flucht, stöhnt beim Bücken vor Schmerz, liest aber jede einzelne Ein- oder Zwei-Pence-Münze auf.
«Ich liebe London, es ist meine Heimat», sagt Zina Alfa. «Aber es hat sich verändert.» Die Krise ist Dauerthema. Mittlerweile gibt es für die «cost of living crisis» sogar ein eigenes Wort: Alfa und ihre Freunde sprechen von den «cozzie livs», wenn sie, statt sich zu treffen, wieder zu Hause bleiben, um Geld zu sparen.
Der Vermieter habe sie um Geld betrogen, erzählt sie. Als sie zur Polizei ging, schickte man sie zur Stadtverwaltung und von dort wieder zur Polizei zurück: «Niemand fühlt sich zuständig, niemand fühlt sich verantwortlich. Alle sind am Anschlag.»
Was sie frustriert: «Wir werden weder gesehen noch gehört und schon gar nicht unterstützt», sagt sie. «Wie kann es sein, dass wir sechsmal mehr für unsere Energie bezahlen, während Shell und BP Rekordgewinne melden? Oder dass die Löhne immer noch gleich hoch sind wie zu Beginn meines Studiums 2011?»
Wut über die «da oben»
Die Wut «über die da oben», eine Elite, die sich nur um ihren eigenen Reichtum kümmert, sitzt tief. Es mutet bizarr an, wenn Premierminister Rishi Sunak (42), ein Beinahemilliardär, für seinen zwölf Meter langen Pool im Ferienanwesen in North Yorkshire extra die Stromversorgung ausbaut – während Hunderttausende in kalten Häusern leben. Oder wenn der Chef der Bank of England moniert, die Briten «müssten jetzt akzeptieren, dass sie ärmer seien» – während er selbst 190'000 Pfund im Jahr einstreicht.
«Die da oben» sind aber auch das Königshaus. Charlotte Proudman (34), eine bekannte Frauenrechtlerin, twitterte diese Woche etwa: «100 Millionen Pfund unseres Geldes werden für die Krönung des Königs ausgegeben, während es inzwischen kein Geld für kostenlose Schulmahlzeiten, Essensausgaben, das Justizsystem, Frauenhäuser mehr gibt. Lasst uns die 99,9 Prozent an erste Stelle setzen, nicht 0,1 Prozent.»
Carla Maurer (42), schweizerisch-britische Seelsorgerin der Swiss Church in London, erzählt im Pfarrhaus nahe Finsbury Park von der Butter, die plötzlich fünf Pfund kostet statt zweieinhalb wie bisher. Und davon, dass die Lehrpersonen in dieser Woche zum vierten Mal innert zwei Monaten gestreikt haben. Sie und ihr Mann kaufen jetzt bei Aldi statt bei Waitrose ein – das ist günstiger. Gehen noch zwei- statt dreimal in die Ferien. «Wir haben Spielraum, aber der fehlt vielen. Und dann wird es hart», sagt Maurer.
Jeden Dienstag organisiert die Swiss Church ein Frühstück, rund 60 Bedürftige nehmen teil, deutlich mehr als früher. Mittlerweile kommt es gelegentlich zum Streit unter den Teilnehmenden, wer denn nun bedürftiger sei. Der Coiffeur, der einmal im Monat Haare kostenlos schneidet, ist so gefragt, dass inzwischen ein zweiter angeheuert wurde.
Aussichtslose Wohnungssuche
Rose Campbell ist in zwei Jahren zweimal umgezogen. Sie erhält nur Mietverträge über ein Jahr: Wenn sie erneuert werden, erhöhen die Vermieter gleich die Preise. Die 29-Jährige arbeitet in der Modeindustrie. Ihre Wohnung ist nun 200 Pfund teurer. Sie hat zwar eine Lohnerhöhung erhalten, aber nur 40 Pfund mehr im Monat.
Eine Wohnung zu finden, war in London noch nie einfach, sagt Campbell. In den letzten zwei Jahren sei es schier unmöglich geworden. Für das Geld, für das man früher eine ganze Wohnung bekam, gebe es gerade noch ein Zimmer. «Und da bewerben sich mit dir noch 30 andere.»
Findet man eine Bleibe, ist sie meist in desolatem Zustand: In der alten Wohnung löste sich ein Küchenschrank von der Wand und fiel auf ihren Freund. Die Vermieterin reagierte erst nach drei Wochen und mehrmaligem Insistieren. Geld für anderes, wie beispielsweise Heizen, bleibt in der Krise keines. «Im Winter war es so kalt in der Wohnung, dass wir unseren Atem sehen konnten.» Sie hoffe, dass es wieder besser werde, aber: «Es sieht nicht gut aus. Es fühlt sich an, als ob das nun so bleibt.»
Am Piccadilly Circus bläst am Abend ein junger Mann im Rock britische Hymnen auf dem Dudelsack. Im Hintergrund wehen Union Jacks im sanften Frühlingswind. Die Häuser um den Musiker sind schwer von Kultur und Geschichte. Touristen klatschen, werfen Münzen in den Koffer. Hier, umgeben von Hunderten Jahren Kultur und Grösse, auf dem Platz, der zu Zeiten des British Empire als Mittelpunkt der Welt galt, lebt sie nochmals kurz auf, die «Great Nation», die der Inselstaat einmal war. Grossbritannien, die Postkartenidylle.
Der junge Mann aber spielt für das England von früher. Echte Briten sparen sich mittlerweile das Busticket in die Innenstadt.