«Die Lage in Grossbritannien ist so kritisch wie schon lange nicht mehr», sagt Professor Gerhard Dannemann (63) von der Humboldt-Universität zu Berlin zu Blick. Zahlreich legen Bahnarbeiter und Postangestellte ihre Arbeit nieder, sie stellen kurz vor Weihnachten die Reisepläne vieler auf den Kopf und stellen Weihnachtsgeschenke nicht zu. Hinzu kommt ein historischer Protest von rund 100’000 Pflegerinnen am Donnerstag, die keine Behandlungen in Spitälern und Kliniken durchführen. Auch Busfahrer, Fahrlehrer und Angestellte bei Energiefirmen ziehen mit.
Britische Zeitungen wie der «Guardian» publizieren Kalender, in denen die Leser tabellarisch und in Farbe erfahren, welche Dienstleistungen wann blockiert sind. Es geht indes allen Streikenden um das Gleiche: ein höheres Gehalt, dies insbesondere vor dem Hintergrund der steigenden Lebenshaltungskosten. So wird die Energie teurer, hinzu kommt eine breitflächige Rezession. «Im gesamten öffentlichen Sektor sind die Einkommen schon seit Jahren gesunken und stürzen derzeit durch die Inflation geradezu ab», sagt Professor Dannemann. Dies betreffe auch den Gesundheitsdienst und die Schulen, ebenfalls die weitgehend privaten Bahnunternehmen.
«Akute Gefahr» für Premier Sunak
Die Londoner Boulevardzeitungen vergleichen die Situation mit dem «Winter of Discontent» von 1978 und 1979. Damals paralysierten Streiks im öffentlichen und privaten Sektor Grossbritannien. Premierminister James Callaghan (1912–2005) verlor die Macht. Die «New York Times» spricht denn jetzt auch von einer «akuten Gefahr» für den amtierenden Premier Rishi Sunak (42), der am vergangenen Mittwoch die Amtszeit seiner Vorgängerin Liz Truss (47) überschritt. Sie trat nach kürzester Zeit zurück.
Mehr zum Chaos in Grossbritannien
Am selben Tag stellte sich der konservative Sunak der Kritik im Unterhaus, hauptsächlich jener der sozialdemokratischen Partei. Deren Parteiführer Keir Starmer (60) sagte, Sunak befinde sich im Winterschlaf. Der Premier selbst sagte über die Streiks, es sei nicht richtig, gerade vor Weihnachten so vielen Menschen zu schaden. Wie die «Daily Mail» ausserdem berichtet, hat Sunak vor, nächstes Jahr ein Anti-Streik-Gesetz ins Leben zu rufen.
«Die kommenden Wochen werden kritisch»
«Die Lage für die britische Regierung ist sehr ernst», sagt Professor Dannemann. Sie hätte zumindest Verhandlungsbereitschaft zeigen müssen. «Und könnte das weiterhin tun, wenn auch mit einem gewissen Gesichtsverlust.» Die finanzielle Situation sei angespannt, es gehe um grosse Summen. «Aber mindestens ebenso angespannt ist die finanzielle Situation im öffentlichen Dienst.»
Dannemann betont: «Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die Streiks.» Dadurch kämen viele Abgeordnete der konservativen Regierungspartei unter Druck von ihren Wählern. Die Bilanz des Professors: «Die kommenden Wochen werden kritisch.»