Es ist kein Geheimnis, dass die russischen Streitkräfte in einem desolaten Zustand sind. Eine richtige Taktik scheint es nicht zu geben, und grössere militärische Erfolge bleiben aus. Selbst die grosse Winteroffensive ist gescheitert. Putins Armee hatte versucht, die gesamte Donbass-Region einzunehmen. Die russischen Streitkräfte an der Front in der Region konnten bei hohen Verlusten nur minimale Gewinne verzeichnen, wie das britische Verteidigungsministerium mitteilte. An der ukrainischen Armee hingegen wird nur selten Kritik geäussert. Das liegt wohl auch daran, dass die Landesverteidiger seit Kriegsbeginn mit ihrer Leistung beeindrucken.
Trotzdem begehe auch die Ukraine Fehler, findet Militärstratege Glen Grant, der 2014 für das ukrainische Verteidigungsministerium als Berater tätig war. Er kennt das ukrainische Militär genau – also auch die Probleme. In einem Artikel für das Onlineportal «Euromaiden Press» erklärt er, was die Ukrainer besser machen könnten. Konkret geht es um sechs Punkte, die der Brite anführt.
Veraltete Strukturen
Laut Grant halten sich die ukrainischen Streitkräfte nach wie vor an Vorschriften aus Sowjet-Zeiten. Deswegen fehle es vielen Kommandanten an «Charakter, Ausbildung und Fähigkeiten».
Ausserdem besteht das ukrainische Militär seit dem 24. Februar 2022 zu einem grossen Teil aus Personen, die noch «vor wenigen Wochen» einen herkömmlichen Job ohne Bezug zum Militär hatten. Und genau diesen Personen passe die Haltung «Ich bin der Chef, du bist ein Dummkopf», wie sie einige Kommandanten haben, überhaupt nicht.
Kein richtiger Zusammenhalt
Gerade weil in der ukrainischen Armee viele Menschen kämpfen, die vor kurzem noch «normale Zivilisten» waren, soll keine solidarische Verbundenheit herrschen. Es herrsche eine «organisatorische Arroganz, wobei einige Teile des Militärs als besser oder wichtiger angesehen werden als andere», so Grant.
Fehlende Kommunikation
Um effektiv zu sein, sei Kommunikation enorm wichtig. Doch gerade jetzt käme es vor, dass mehrere Einheiten in einem Gebiet kämpfen würden, ohne voneinander zu wissen. «Ohne klare geografische Grenzen kann kein Kommandant sicher sein, bis wohin seine Befehle gelten», so Grant. Genau an diesen Grenzen soll es bei den Ukrainern aber mangeln. Und das kann fatale Folgen haben, berichtet der Ex-Oberst. «Ich sprach an Weihnachten mit dem Angehörigen eines ukrainischen Bataillons, der mir berichtete, dass seine Einheit zweimal auf ukrainische Spezialkräfte geschossen habe und beinahe auch noch auf eine andere Einheit.»
Schlechte Ausbildung
Die Infanterie bildet das Rückgrat einer Armee. Speziell bei diesen Truppen, aber auch im Allgemeinen, soll die Ausbildung von ukrainischen Soldaten ungenügend sein. Die Trainingseinheiten sind laut dem Ex-Oberst «ein Chaos mit einem Mix aus Sowjet-Zeiten, dem Nato-System und Improvisation».
Langsamer Verwaltungsapparat
Weil innerhalb der ukrainischen Armee immer noch ein bürokratisches System mit vielen Regeln herrscht, sollen in der Vergangenheit wichtige Entscheidungen oftmals erst mit viel Verspätung getroffen worden sein.
Grant berichtet von einem Fall aus dem Februar. Die Ukraine kaufte dringend benötigte Drohnen aus dem Ausland. Diese konnten jedoch erst vier Wochen später im Kampf eingesetzt werden, weil eine Unterschrift des Verteidigungsministeriums fehlte.
Mangelhafte Versorgung
Im Krieg gibt es viele Verletzte. Und gerade, was die Versorgung angeht, steht die Ukraine nicht gut da. Dabei fehle es an Ausbildung, aber auch an Material. «Der Mangel an qualifizierten Soldaten, die im Feld Erste Hilfe leisten können, ist kriminell», so der Brite. (obf)