Russland leidet. «Im Moment erleben wir den Zusammenbruch der russischen Streitkräfte», sagt der britische Militärexperte Ed Arnold im Interview mit dem «Spiegel». Innerhalb einer Woche eroberten die ukrainischen Truppen mehr Land als Russland in den vergangenen vier Monaten. Wie war das möglich?
«Ein grundlegender Aspekt ist die Einstellung. Die Ukrainer sind ehrgeiziger. Sie setzen ihre Reserven sinnvoll ein, nutzen Schwachstellen aus und verfügen über hervorragende Geheimdienstinformationen.» Sprich: Hinter dem Gegenschlag dürfte ein ausgeklügelter Plan stecken.
Gemäss Arnold könnte dieser wie folgt ausgesehen haben: «In der Schlacht um den Donbass im April und Mai war das Ziel, die Truppen der Russen auszudünnen. Der zweite Schritt bestand darin, in den letzten Monaten die Gegenoffensive in Cherson anzukündigen und im Süden aktiver zu werden. Russland sah sich gezwungen, seine besten Kräfte dorthin zu verlegen.» Mit verheerenden Folgen. Im Osten tat sich eine Schwachstelle auf, welche die Ukrainer perfekt nutzten.
Russland überlässt der Ukraine Munition
Eine taktische Meisterleistung. Arnold: «Dies ist eine der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg und gleichzeitig ein Wendepunkt des Krieges.» Während die ukrainischen Streitkräfte Erfolge feiern, muss Russland schnellstmöglich seine Probleme lösen.
«Ihnen fehlt ganz einfach der Zusammenhalt. Verbände fangen an, sich aufzulösen. Es gibt viele Berichte über Russen, die ihre Posten verlassen. Dabei hinterlassen sie Munition und gepanzerte Fahrzeuge.» Zudem seien die Befehls- und Kontrollstrukturen weiter ungenügend.
Die Ukraine muss vorsichtig sein
Ist die Niederlage von Russland damit besiegelt? Arnold sieht nur noch eine mögliche Siegeschance: «Präsident Wladimir Putin müsste zur Mobilmachung aufrufen, um das Blatt zu wenden. Oder allein schon, um die bisher erreichten Gewinne zu halten.»
Die Rückeroberung grosser Gebiete birgt aber auch für die Ukraine gewisse Gefahren, wie der Brite anmerkt: «Es besteht das Risiko, dass die Ukrainer ihre Linien überdehnen und anfällig für russische Gegenangriffe werden.» (nab)