Der russische Präsident Wladimir Putin (71) ist seinem Ziel vergangenes Jahr näher gekommen. Militär- und Osteuropaexperte Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council in Foreign Relations in Berlin beobachtet den Krieg in der Ukraine genau und beschreibt in einer Analyse drei mögliche Szenarien. Der Kriegsverlauf hängt in erster Linie vom Westen ab – und von den Wahlen in den USA.
Russland schaffte es im vergangenen Jahr, die Hauptprobleme der eigenen Armee zu lösen. Streitkräfte wurden effektiver eingesetzt, weniger Russen verloren ihr Leben. Die Produktion von Waffen wurde hochgefahren. Währenddessen liess die Unterstützung des Westens für die Ukraine nach. Das ist entscheidend für das Jahr 2024.
Best-Case-Szenario: Ukraine geht in Offensive
Am besten für die Ukraine wäre es, wenn Amerikas Ex-Präsident Donald Trump (77) von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen wird und Nikki Haley (52) für die Republikaner kandidiert. Wer die US-Wahlen schlussendlich gewinnt, habe wenig Einfluss. Aber: Wenn Haley im Rennen wäre und beim Wahlkampf die Unentschlossenheit und Schwäche der USA anprangert, ist der Präsident Joe Biden (81) am Zug und sichert der Ukraine mehr und effektivere Waffen zu. So etwa F-16-Kampfjets und Atacms-Raketen. «Damit ist die Ukraine in der Lage, die russischen Luftstreitkräfte weiter von der Front zurückzudrängen und ihre Effektivität zu verringern», beschreibt Gressel das Szenario.
Zwar würde das für das ukrainische Militär auch Verluste bedeuten, aber gleichzeitig würde die Ausbildung verbessert werden. Die Ukraine könnte neue Brigaden gründen, die mit modernster Technik hantieren. Das würde die EU dazu bringen, die Ukraine wieder mehr zu unterstützen. Auf langfristige Sicht wäre das ein grosser Vorteil. «So hat die Ukraine bis Ende 2024 die Voraussetzungen geschaffen, um im Jahr 2025 die Initiative wiederzuerlangen und weitere Gebiete zu befreien», beurteilt Gressel. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) dürfte damit zufrieden sein.
Mittleres Szenario: Ukraine hält sich in der Defensive
Ein Chaos bei den US-Wahlen hätte Einfluss auf das Schlachtfeld in der Ukraine. Wenn Biden von den Republikanern ausgebremst würde, weil sie Geld für amerikanische Projekte wie eine Mauer an der Südgrenze verlangen, wäre es schwierig, effektive Hilfspakete zu versprechen. «Die USA versorgen die Ukraine weiterhin mit Hilfe am Tropf», beschreibt Gressel die Situation in dem Fall.
Die EU würde dann weiterhin nur wenig Munition liefern. Zwar könnte sich die Ukraine über Wasser halten – aber nur in defensiver Haltung. Die ukrainische Armee müsste «unter russischem Druck einige Gebiete abtreten», erklärt Gressel.
Dass die Ukraine nicht genug gepanzerte Fahrzeuge bekommt, würde sich in der zweiten Hälfte des Jahres zeigen. Entweder fehlen Ersatzteile oder Munition bei den Waffen der Ukraine. Neue Brigaden würden aufgelöst werden, und Kiew hätte es immer schwieriger, neue Soldaten zu finden. Die Motivation würde stetig sinken. «Kurz gesagt, die Ukraine bleibt in der Defensive und überlebt das Jahr 2024», sagt Gressel über dieses Szenario. Wer den Krieg gewinnt, hängt dann davon ab, ob die Demokraten oder die Republikaner die US-Wahl gewinnen.
Worst-Case-Szenerio: Ukraine kann Angriffe nicht abwehren
Wenn Trump Wahlkampf macht und der Präsidentschaftskandidat der Republikaner wird, sieht es für die Ukraine schlecht aus. Die Republikaner würden jegliche Versuche Bidens, der Ukraine Hilfe zu schicken, behindern. Die EU würde zwar weiterhin Waffen schicken, könnte aber nicht ausgleichen, was durch die Amerikaner fehlt.
Der Ukraine würde es schon bald an Granaten und Raketen fehlen, wodurch sie nicht in die Offensive könnten. Vorteil für die Russen. Die Ukrainer würden sich etwas zurückziehen, und die Soldaten an der Front könnten nicht mehr abgezogen werden, weil sie die Stellung halten müssten. Das hätte eine dramatische Folge, warnt Gressel: «Ende 2024 sind die meisten ukrainischen Brigaden müde und erschöpft.»
Ohne die Atacms-Raketen der USA könnte die Ukraine weniger russische Angriffe abwehren. Putin würde das ausnutzen, um das Land zu bombardieren. «Die zunehmend düsteren Aussichten veranlassen viele Ukrainer zur Flucht. Bis Ende 2024 werden zehn Millionen Ukrainer in die EU geflohen sein, Tendenz steigend», sagt Gressel. Auf die EU kämen dadurch erhebliche Kosten zu, wodurch weniger Mittel zur Unterstützung der Ukraine zur Verfügung wären.
Wenn Trump dann die Wahl gewinnen würde, würde Europa aufhören, die Ukraine zu beliefern. Aus Sorge, dass die US-Unterstützung aus der Ukraine abgezogen wird und Russland weitere Länder angreifen könnte, würde die EU das eigene Militär aufrüsten. Gressel meint zum Worst-Case-Szenario: «Der Krieg in der Ukraine wird von den meisten im Westen als verloren angesehen, obwohl die Ukraine selbst weiter gegen alle Widrigkeiten ankämpft.»