Weil die russische Armee an allen Fronten die Initiative verloren hat, zielt sie in der Ukraine nun per Fernbeschuss auf kritische Infrastruktur wie Kraftwerke, Öl- und Gasspeicher sowie Verkehrsknotenpunkte. Und das hat Folgen: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) sagte, dass rund 30 Prozent der Kraftwerke zerstört worden seien. Mit Hochdruck sei man aber daran, die Infrastruktur zu reparieren. Am meisten leidet darunter die Bevölkerung, weil sie ohne Strom leben muss.
ETH-Sicherheitsexperte Mauro Mantovani (59) sagt gegenüber Blick zu den russischen Angriffen: «Es sieht nach einem Strategiewechsel aus, ähnlich jenem der deutschen Luftwaffe im September 1940 in der Luftschlacht um England, als militärische Ziele durch zivile Ziele ersetzt wurden.» Es gebe allerdings einen wichtigen Unterschied: «Putins Strategiewechsel ist aus der Not entstanden, weil er mit der Bekämpfung militärischer Ziele nicht mehr weiter kommt.»
Kein flächendeckender Schutz
Mantovani rechnet mit weiteren Angriffen auf die kritische Infrastruktur. «Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch.» Für die Russen ist es ein relativ leichtes Spiel: In der riesigen Ukraine gebe es viele Infrastrukturziele, zudem sei die Luftabwehr lückenhaft und werde es auch nach der Lieferung westlicher Abwehrsysteme noch bleiben, meint Mantovani.
Die Angriffe erfolgen vor allem mit Marschflugkörpern und Drohnen, die wegen ihrer langsamen Fluggeschwindigkeit und niedrigen Flughöhe nur schwer vom Radar erfasst werden können. Nebst moderner Luftabwehrsysteme hat die Nato zur Drohnenabwehr Störsysteme in Aussicht gestellt. Entschärft sei die Situation damit aber noch lange nicht. Mantovani zu Blick: «Nach der Lieferung all dieser Systeme folgt die Ausbildung, die Wochen bis Monate dauern dürfte.»
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An eine flächendeckende Luftabwehr sei in der Ukraine wegen des grossen Luftraums ohnehin nicht zu denken. «Nur einzelne, besonders wichtige Objekte wie etwa Verteilzentren können geschützt werden», so der ETH-Experte weiter.
«Das sind Terrorakte»
Die russischen Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung bezeichnet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (64) als «Kriegsverbrechen». «Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen – mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden – sind reine Terrorakte», sagte die deutsche Politikerin am Mittwoch in Strassburg vor dem Europaparlament. Damit beginne «ein neues Kapitel in einem bereits grausamen Krieg».
Gerade jetzt müsse man auf Kurs bleiben, sagte von der Leyen. Man werde so lange wie nötig an der Seite der Ukraine stehen und zugleich die EU-Bürger vor dem «Energiekrieg» des russischen Präsidenten Wladimir Putin schützen.
Laut Mantovani setzt Putin mit den Angriffen auf kritische Infrastruktur auf Zermürbung der Bevölkerung und indirekt der Regierung in Kiew. Der ETH-Experte ist aber überzeugt: «Nach aller historischer Erfahrung wird Putin damit vor allem den Widerstandsgeist der Ukrainer stärken. Auch wird es die Aussöhnung in weite Ferne rücken lassen.»