Gegenoffensive stockt – Front-Durchbruch nicht vor Herbst?
Jetzt setzt die Ukraine wieder auf eine altbewährte Taktik

Zwei Monate nach dem Start der ukrainischen Gegenoffensive kommen Kiews Truppen noch immer kaum vom Fleck. Eine kaum beachtete Entwicklung könnte die Wende bringen. Doch zwei Experten der ETH wagen dennoch einen düsteren Ausblick.
Publiziert: 07.08.2023 um 20:12 Uhr
|
Aktualisiert: 08.08.2023 um 15:01 Uhr
1/11
Foto: Keystone/LIBKOS/AP/-
RMS_Portrait_AUTOR_823.JPG
Samuel SchumacherAusland-Reporter

Die Ukraine hat die Russen vertrieben. Mindestens symbolisch. Vergangene Woche haben Bauarbeiter das sowjetische Wappen vom Schild der 62-Meter-hohen Mutter-Heimat-Statue in Kiew entfernt. Ein Protest gegen Moskaus Terror.

Auf dem Schlachtfeld läuft die Entfernung des russischen Problems nicht ganz so geschmeidig. Die russischen Verteidigungslinien halten auch fast zwei Monate nach dem Start der ukrainischen Gegenoffensive. Zwei ETH-Experten wagen einen düsteren Ausblick.

Front-Durchbruch? Nicht vor dem Herbst!

Russland verübt weiterhin täglich Terroranschläge auf ukrainische Städte. Alleine am Sonntag starteten die Russen 70 Raketen und Drohnen. Und die Gegenoffensive der ukrainischen Truppen harzt. Die Frontverläufe bleiben praktisch unverändert.

«Die Ukraine hat realisiert, dass der Durchbruch durch die russische Verteidigung derzeit nicht möglich ist», sagt Strategieexperte Marcel Berni (35) von der ETH-Militärakademie. Deshalb setze sie jetzt wieder auf eine altbewährte Taktik: die präzise Ausschaltung russischer Stellungen durch Distanzwaffen.

Am erfolgversprechendsten sei die Situation für die Ukraine rund um Bachmut, sagt Berni: «Dort konnten sich die russischen Truppen weniger lang eingraben als im Süden. Zudem setzen die Ukrainer hier ihre kampferprobten Truppen ein.» An einen vorschnellen ukrainischen Erfolg glaubt Berni aber nicht: «Die ukrainische Gegenoffensive dürfte bis weit in den Herbst andauern.»

Russen droht Riesenproblem

Am Wochenende beschädigten ukrainische Geschosse zwei Brücken zwischen der Krim und dem russisch besetzten Gebiet Saporischschja. Ein Riesen-Problem für die Versorgung der russischen Truppen im Süden des Landes.

Niklas Masuhr (30), Militärexperte am Center for Security Studies der ETH, erklärt: «Die Ukraine wird weiter auf die Abnutzung der russischen Artillerie und Logistik setzen und erst dann schrittweise vorrücken. Das hat im Herbst bei der Rückeroberung der Gebiete um Charkiw schon funktioniert.» Momentan seien die Bedingungen für einen solchen Vorstoss aber erschwert. Etwa durch die neuen Minenfelder oder den vermehrten Einsatz russischer Kampfhelikopter.

Kurzum: «Selbst bei einem erfolgreichen Durchbruch kann sich die Ukraine nicht darauf verlassen, dass die russischen Linien komplett zusammenbrechen würden. Das ist unrealistisch», sagt Masuhr.

Erfolgreiche ukrainische Piraten-Attacken

Überraschungserfolge erzielt die Ukraine derzeit auf hoher See. Im Schwarzen Meer gelang es ukrainischen Wasserdrohnen, zwei russische Schiffe stark zu beschädigen: ein Kriegsschiff vor dem Hafen der russischen Stadt Noworossijsk und einen Öl-Tanker östlich der Halbinsel Krim.

Einen kurzfristigen Einfluss auf das Kriegsgeschehen hätten die Angriffe zwar nicht, erklärt Militärexperte Marcel Berni. «Aber die Erfolgsmeldungen sind für Kiew derzeit sehr wichtig.»

Die russische Wirtschaft brummt wieder

Wirtschaftlich läuft es einigermassen rund für Kreml-Chef Wladimir Putin (70). Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die russische Wirtschaft dieses Jahr um 1,5 Prozent wachsen wird. Die westlichen Sanktionen gegen das Putin-Regime nützen wenig, solange Russland sein Öl an asiatische Abnehmer verkaufen und seine Industrie voll auf Kriegsmaterial ausrichten kann.

Auf ein Problem aber steuert die russische Wirtschaft laut der US-Denkfabrik Institute for the Study of War unweigerlich zu: Durch die Rekrutierung von Hunderttausenden jungen Männern fehlt der russischen Industrie mittelfristig ein wichtiger Teil ihrer Arbeiterschaft.

Der arabische Traum vom Frieden ist geplatzt

Nach Lugano, London und Vilnius hat jetzt auch die saudische Metropole Dschidda eine Gesprächsrunde über mögliche Wege zum Frieden in der Ukraine veranstaltet. Mit dabei: die Chinesen und diverse, bislang neutrale Länder des globalen Südens.

Viel rausgekommen ist beim Treffen nicht. Die Russen haben nach Ende der Diskussionen klargemacht, dass man den Angriff erst stoppen werde, wenn die Ukraine ihre Kampfhandlungen einstelle und der Westen keine Waffen mehr liefere.

Genauso stur sind die Russen bezüglich des Ende Juli ausgesetzten Getreide-Deals. Putin ist bereit, für seinen Wahnsinn weitere Millionen hungernder Menschen ins Elend zu stürzen.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?