Militärexperte erklärt den überraschenden Vorstoss auf russisches Gebiet
Das steckt hinter dem riskanten Angriff der Ukrainer

Kiew dreht den Spiess um: In einer brandgefährlichen Aktion sind ukrainische Truppen bis 15 Kilometer in russisches Gebiet vorgestossen. Sie verfolgen damit drei bestimmte Ziele. Militärstratege Marcel Berni sagt, welche.
Publiziert: 08.08.2024 um 13:37 Uhr
|
Aktualisiert: 08.08.2024 um 14:11 Uhr
Mit Kampfhelikoptern gegen die Ukrainer: Die Russen geraten im eigenen Land in Bedrängnis.
Foto: IMAGO/SNA
RMS_Portrait_AUTOR_242.JPG
Guido FelderAusland-Redaktor

Den Ukrainern ist ein Coup gelungen. Völlig überraschend – offenbar auch für die amerikanische Regierung – haben rund tausend Soldaten bei Kursk die russische Grenze durchdrungen und sind rund 15 Kilometer in russisches Gebiet vorgestossen.

Was bezwecken sie mit der brandgefährlichen Aktion? Fährt Putin nun die Atombombe auf? Wir erklären das heikle Manöver, das schwerwiegende Folgen haben dürfte. 

Was ist passiert?

Unterstützt von Panzern und Artillerie haben ukrainische Truppen am Dienstag früh vom Gebiet Sumy aus die russische Grenze bei Sudscha überschritten und mindestens elf Dörfer sowie eine Gasmessstation unter ihre Kontrolle gebracht. 

Inzwischen sind sie bis 15 Kilometer weit ins Landesinnere vorgestossen und haben eine Fläche von 45 Quadratkilometern erobert. Die Rede ist von 3 Toten und 30 verletzten Russen sowie 20 gefangen genommenen Grenzsoldaten. Der Kreml behauptet, mindestens 100 ukrainische Soldaten getötet zu haben. Tausende von Russen flohen. 

1/11
Bild des russischen Verteidigungsministeriums: Der Kreml behauptet, dass mindestens hundert Ukrainer getötet worden seien.
Foto: IMAGO/SNA

Warum wollen die Ukrainer russisches Gebiet erobern?

Der gefährliche Vorstoss auf feindlichen Boden dürfte mehrere Gründe haben. Marcel Berni (36), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich, erklärt, welche: 

  • Die Ukrainer versuchten damit verzweifelt, militärischen Druck vom Donbass zu nehmen. «Kiew hofft darauf, dass Moskau nun abgelenkt wird und Truppen in Richtung Kursk abziehen muss.»

  • Der ukrainische Angriff sei auch eine Reaktion auf die seit längerem im Raum stehende vermeintliche Kriegsmüdigkeit sowie materielle und personelle Schwäche Kiews. 

  • Kiew hoffe, russisches Gebiet und russische Soldaten als Faustpfand für Verhandlungen zu nutzen. 

Kann die Ukraine das eroberte Gebiet halten?

Für Marcel Berni steht fest, dass Russland die grösseren Reserven hat. «Es dürfte für die Ukraine schwierig werden, grössere Teile russischen Kernlands langfristig zu halten.»

Was sagt Kiew?

Konkret hat sich die ukrainische Regierung bisher nicht geäussert. Präsident Wolodimir Selenski (46) sagte in seiner täglichen Videobotschaft nur: «Je mehr Druck wir auf Russland ausüben, desto näher rückt der Frieden. Ein gerechter Frieden, durch gerechte Kraft.»

Wie reagiert Putin?

Der russische Präsident Wladimir Putin (71) spricht von einer «schweren Provokation» und hat in der Region den Ausnahmezustand verhängt. Die russische Nationalgarde hat das Atomkraftwerk Kursk gesichert, das rund 60 Kilometer von der Grenze entfernt steht. Zudem sind Kräfte für die Bekämpfung von Sabotage- und Aufklärungstrupps aufgeboten worden. 

Die Bewohner der Region fühlen sich laut «Moscow Times» im Stich gelassen. Militärblogger kritisieren den Kreml und werfen ihm Nachlässigkeit vor, weil er mit einer Grenzüberschreitung der Ukrainer hätte rechnen müssen. 

Fährt Putin nun die Atombombe auf?

Der Kreml wird reagieren müssen und in der Region eine Gegenoffensive planen. Berni: «Der Kreml steht zum ersten Mal in diesem Jahr unter Zugzwang. Ich gehe davon aus, dass primär russische Reserven nun versuchen werden, den ukrainischen Geländegewinn zurückzuschlagen.»

Berni glaubt zudem, dass gleichzeitig russische Drohungen gegenüber der Ukraine und dem Westen wieder zunehmen werden. Das russische Verteidigungsministerium hat bereits ein Video vom Einsatz einer Kurzstreckenrakete des Typs «Iskander-M», die auch Atomsprengköpfe tragen kann, gezeigt. Ein Einsatz von Atombomben steht wohl erst zur Diskussion, wenn Russland in seiner Existenz gefährdet ist oder selber mit Atomwaffen angegriffen wird. 

Welchen Einfluss hat der Vorstoss auf den Kriegsverlauf?

Laut Berni hat die Ukraine Russland an einem wunden Punkt getroffen. Doch die Ukraine gehe mit dieser Operation zwei Risiken ein: «Einerseits sieht sie sich dem militärischen Vorwurf der Verzettelung der eigenen Kräfte ausgesetzt. Andererseits provoziert sie eine russische Gegenreaktion und damit eine mögliche Eskalation.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?