Nicht nur verärgerte Landwirte, auch Deutschlands «schweigende Mehrheit» wird laut. Seit dem 12. Januar ziehen die Menschen durch die Innenstädte gegen Rechtsextremismus, Rassismus, gegen die AfD. Und die Demonstrationszüge werden jedes Mal länger. Allein am vergangenen Samstag protestierten 300'000 Menschen. Auch am Sonntag sind wieder Hunderttausende unterwegs. Der Marsch geht weiter. Bis Anfang Februar sind bundesweit fast täglich neue Kundgebungen geplant.
In allen deutschen Bundesländern, in fast allen Städten und Landeskreisen ertönen Schlachtrufe gegen Rechts. «Alle zusammen gegen die AfD» heisst es in Stuttgart, «Kein Bock auf Höcke» in Erfurt, «Rechtsaussen ist nur bei Werder gut» in Bremen. Und die Kölner haben «Kein Kölsch für Nazis». In Wuppertal kämpft man «Gemeinsam und solidarisch! Gegen Ausgrenzung, Hass und Hetze!». In Hamburg steht auf Bannern «Ekelh-afd» und in München heisst es «Faschisten sind keine Alternative für Deutschland». Am Sonntag wurde die dortige Demonstration wegen zu hohem Andrang abgebrochen.
Heimliches Nazi-Treffen schreckt Öffentlichkeit auf
Eine journalistische Enthüllung löst vor zehn Tagen den Protest-Tsunami aus. Das Medienhaus Correctiv hatte von einem rechtsextremistischen Geheimtreffen berichtet, das Ende November 2023 in Potsdam stattfand. Neonazis, hohe AfD-Mitglieder und Unternehmer diskutierten einen Masterplan für die sogenannte Remigration. Dieser sieht die millionenfache Deportation von Ausländern in Deutschland nach Afrika vor. Erinnerungen an die verheerende Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 werden wach, an der Nationalsozialisten die Ermordung von Millionen Juden entschieden.
Als sehr bedrohlich bezeichnet Felix Neumann von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin die heimlich belauschte Szene in der Brandenburger Villa: «Das Treffen dient zur Vernetzung der Rechtsextremisten in Deutschland. Alarmierend ist, dass AfD-Mitglieder beteiligt waren, die in der Partei Entscheidungen treffen können.» Solche Zusammenkünfte habe es zwar auch schon früher gegeben, «sie nehmen aber zu und stärken die extreme Rechte», so der Sicherheitsexperte weiter. «Was da passiert, ist besorgniserregend und eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden, die Gesellschaft und die deutsche Demokratie.»
Zwei neue populistische Parteien gegründet
In acht von 16 deutschen Bundesländern wurde die AfD vom Verfassungsschutz bereits entweder als gesichert oder verdächtig rechtsextremistisch eingestuft. Dennoch schien ein grosser Teil der deutschen Bevölkerung auf dem rechten Auge blind. Laut Umfragen würde die AfD, gäbe es jetzt Bundestagswahlen, hinter der CDU/CSU Rang zwei einnehmen. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und in Thüringen würde sie gar stärkste Kraft. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind im Herbst Landtagswahlen.
Die Correctiv-Enthüllung kommt zu einer Zeit, in der Rechts- und Linkspopulisten neue Parteien gründen. So will der ehemalige Präsident des deutschen Verfassungsschutzes, Noch-CDU-Politiker Hans-Georg Maassen (61), aus dem Verein Werteunion eine erzkonservative Partei machen, die gegenüber der AfD «keine Brandmauer kennt». Nur Wochen zuvor hatte die einstige Links-Ikone Sahra Wagenknecht (54) ihr Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) verkündet. Die Haltung zur Migration, zu Sinn und Zweck der EU und zu Putins Russland teilen beide neue Partei inhaltlich mit der AfD. Selbst die konservativ-liberalen Freien Wähler, die bislang eher regional aktiv sind und es in die bayerische Landesregierung geschafft haben, liebäugeln mit dem Einzug in den Bundestag.
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Neue Konkurrenz für die AfD
Eine neue politische Allianz fürchtet Felix Neumann dennoch nicht. «Die neuen Parteien werden kaum genug Stimmen erhalten, um beispielsweise der AfD als Koalitionspartner in einer zukünftigen Bundesregierung zu dienen», sagt der Politikwissenschaftler. Anders sehe es möglicherweise in den Landtagen oder im EU-Parlament aus. Vielmehr würden die Parteien der AfD Wähler abfischen.
Die anhaltenden Proteste seien wichtig, so der Experte. «Sie zeigen, dass Deutschland eine sehr stabile Mitte hat, die sich nicht an den politischen Rändern orientiert.» Neumanns Rezept gegen Rechts richtet sich an die Regierungsparteien: «Die Regierung muss in ihren Entscheidungen mehr Einigkeit zeigen. Wer Politik macht, muss sie auch kommunizieren. Dann verliert man auch nicht so viel Vertrauen.»