Seit vergangenem Samstag dürfen russische Züge, die durch litauisches Gebiet zur russischen Exklave Kaliningrad unterwegs sind, gewisse Waren wie Zement, Kohle, Baumaterialien und Metalle nicht mehr transportieren. Der Kreml reagiert prompt und droht mit «praktischen Vergeltungsmassnahmen» – was das genau bedeutet, wird offengelassen.
Lässt sich Moskau nun tatsächlich auf einen Krieg mit der Nato ein? Nur, weil die Regierung in Vilnius die EU-Sanktionen umsetzt? Riskant wäre es allemal, das Verteidigungsbündnis hat nach den russischen Drohungen bekräftigt, den Mitgliedsstaaten im Baltikum Beistand zu leisten.
Fakt ist aber: Aufgrund der geografischen Lage der baltischen Staaten und der geringen Menge an Nato-Truppen vor Ort wäre es ein Leichtes für Moskau, die Region von Versorgungswegen zu Land abzuschneiden, wie «Spiegel» schreibt. Margarita Šešelgytė, Sicherheitsexpertin und Direktorin des Instituts für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft der Universität Vilnius erklärt im Interview mit dem Magazin, was Litauen jetzt wirklich braucht.
Russlands Reaktion kann nicht vorhergesagt werden
«Die russische Regierung schafft gerne Chaos und nutzt die vorhandenen Schwachstellen anderer Länder aus, um ihre eigenen Interessen voranzutreiben», erklärt sie. Russlands Reaktion vorherzusagen, sei nicht leicht. Sie vermutet: «Es könnte auch sein, dass Putin die Europäische Union und den Westen mit solchen Drohungen spalten möchte.»
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Für viele in der litauischen Bevölkerung ist klar: Wenn Russland nicht bestraft wird, drohen in Zukunft weitere Kriege, auch auf dem Territorium der Nato, so Šešelgytė. Mit einer baldigen militärischen Aktion rechnet die Expertin aber nicht. «Das erscheint auch deshalb unwahrscheinlich, weil grosse Teile von Russlands Streitkräften in der Ukraine gebunden sind.» Doch die Situation könne sich schnell ändern.
«Wir brauchen so viele Truppen wie möglich hier»
Auch wenn Litauen stark militarisiert sei, auf Nato-Hilfe sei man trotzdem angewiesen. «Selbst wenn man alle baltischen Staaten und Polen zusammenrechnet, sind wir klein im Vergleich zu Russland.» Šešelgytė zieht eine niederschmetternde Bilanz: «Laut Studien von 2015 könnte Russland Litauen binnen 72 Stunden einnehmen.» Denn die russische Militärpräsenz war nach dem Zerfall der Sowjetunion stets grösser als die der Nato.
«Wir brauchen so viele Truppen wie möglich hier», wendet sich Šešelgytė mit einer Bitte an die Nato. Ein Umdenken sei gefordert. «Unsere Region muss als Priorität angesehen werden.» Sie betont: «Wir sollten nicht das Szenario zulassen, dass russische Truppen in das Territorium baltischer Staaten eindringen und die Nato dann versuchen muss, diese Gebiete zurückzuerobern.» Denn das gebe Russland die Möglichkeit, den Westen mit einem Atomangriff zu erpressen.
Als das vierte EU-Sanktionspaket gegen Russland beschlossen wurde, habe niemand in Litauen daran gedacht, eine Ausnahme zu fordern, um das Transitverbot nach Kaliningrad umgehen zu können. «Wir haben das nicht getan, weil es unserer Aussenpolitik widersprochen hätte, unserer sehr ernsthaften Unterstützung für die Ukraine und unserer Überzeugung, dass Russland bestraft werden muss.» (chs)