Wie sagt man noch gleich? Beisse nicht die Hand, die dich füttert. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) tat am Dienstag aber genau das. Er erreichte den Nato-Gipfel in Vilnius mit der Hoffnung auf grünes Licht zum ukrainischen Nato-Beitritt. Und wurde bitter enttäuscht.
Seinem Ärger macht Selenski auf Twitter Luft. Dass kein Zeitrahmen für eine Einladung festgelegt werde, sei «beispiellos und absurd», schreibt er. Unschlüssigkeit sei «eine Schwäche».
Gegenüber der «Washington Post» erklärten mehrere Nato-Diplomaten, dass Selenski den Tweet wohl als Verhandlungstaktik einsetze. Zwischen den Zeilen: Es müsse mehr für die Ukraine getan werden. In Vilnius löste sein Tweet Stirnrunzeln aus. Schliesslich hat die Nato bereits viel für die Ukraine getan.
150 Milliarden US-Dollar
Seit Beginn des Krieges unterstützt die Nato ihre Mitgliedsstaaten dabei, die Ukraine zu bewaffnen. Nach Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, einer deutschen Denkfabrik, haben die Nato-Mitglieder im ersten Kriegsjahr insgesamt mindestens 150 Milliarden US-Dollar an finanzieller, humanitärer und militärischer Hilfe bereitgestellt. Zudem wurden massive Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und den Staat Russland verhängt.
Panzer, Raketen, Munition
Der grösste Teil der militärischen Unterstützung wurde auf bilateraler Ebene und nicht über die Nato organisiert, um zu vermeiden, dass ein «Russland gegen die Nato»-Denken geschürt wird. Nichtsdestotrotz haben die individuellen Nato-Mitglieder der Ukraine Militärhilfe im Wert von fast 50 Milliarden US-Dollar – oder «mehr als acht Kampfbrigaden» – zugesagt, darunter Luftabwehrsysteme, schwere Artillerie, moderne Kampfpanzer und jetzt auch die Ausbildung ukrainischer Kampfjetpiloten.
Aus zwei mach eins
Die Staats- und Regierungschefs der Nato haben am Dienstag die Tür für die Ukraine ein wenig weiter geöffnet, indem sie dem Land einen beschleunigten Weg zur Mitgliedschaft angeboten haben. «Wir haben bekräftigt, dass die Ukraine Mitglied der Nato werden wird, und uns darauf geeinigt, die Forderung nach einem Aktionsplan für die Mitgliedschaft aufzuheben. Dies würde den Beitrittsprozess der Ukraine von einem zweistufigen zu einem einstufigen Prozess machen», sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (64).
Für Selenski ist das alles nicht genug
Einen Zeitplan, wie von Selenski gefordert, nennt man aber nicht. Stattdessen heisst es in einer Erklärung, Kiew müsse abseits des Kriegsgeschehens weitere Reformen bei demokratischen Standards und im Sicherheitssektor vollenden.
Trotz weiterer Zusagen und Sicherheitsversprechen fällt der Nato-Gipfel in Vilnius für Selenski – und viele Beobachter – also eher enttäuschend aus. Selenski rudert während einer Pressekonferenz am Dienstag etwas zurück. Die Ergebnisse des Gipfels seien zwar «zufriedenstellend», doch: «Eine Einladung in die Nato wäre besser gewesen.» Nun bleibt die Ukraine noch weiter in der Schwebe, statt eine klare Ansage zu bekommen. In den Worten Selenskis: «Ist das zu viel verlangt?»
Viele Gipfelteilnehmer erwarten laut «Spiegel», dass es am zweiten Tag des Gipfels zu heftigen Auseinandersetzungen und öffentlichen Schlagabtäuschen kommt. Denn für den ukrainischen Präsidenten scheint zu gelten: Die Hand zu beissen, die dich füttert, ist in Ordnung, wenn sie dir zu wenig zu essen gibt.