Einen Gipfel wie diesen haben die 31 Mitgliedsländer der Nato noch nie gesehen: Das Drama vor dem Treffen der Verteidigungsallianz in der litauischen Hauptstadt Vilnius könnte kaum grösser sein. Nicht weit vom Austragungsort tobt ein Krieg. Und auch im Unterholz der Nato selbst rumort es: Die Türkei blockierte monatelang die beitrittswilligen Schweden und die Ukraine bettelt vergeblich um grünes Licht für den Beitritt. Ein Überblick vor dem wichtigsten Spitzentreffen der Nato-Geschichte, das am Dienstag und Mittwoch stattfindet:
1) Was macht die Nato überhaupt?
Seit 1949 garantiert das Verteidigungsbündnis seinen Mitgliedern Sicherheit. Wenn eines der 31 Mitgliedsländer angegriffen wird, eilen die übrigen Nato-Nationen automatisch zu Hilfe. So sieht es der Artikel 5 des Nato-Vertrages vor. Die Mitgliedschaft der Militär-Supermacht USA ist praktisch eine Garantie, dass die Nato keinen Krieg verlieren kann.
Mitglied werden können nur europäische Staaten (Kanada und die USA sind die Ausnahme). Sie sollten mindestens zwei Prozent ihres Staatsbudgets für die Verteidigung ausgeben, was jedoch nur eine Minderheit macht.
2) Was sind die wichtigsten Entscheidungen in Vilnius?
Über allem steht die Frage, ob die Ukraine grünes Licht für einen zukünftigen Nato-Beitritt erhält. Ein sofortiger Beitrittsentscheid ist faktisch ausgeschlossen. Politische Stimmen in den USA und vor allem in Ungarn sind gar der Meinung, man müsse der Ukraine die Nato-Tür ein für allemal vor der Nase zuschlagen. Die Nato könne es sich nicht leisten, Russland derart herauszufordern und damit einen Krieg zwischen den beiden grössten Atommächten der Welt (Russland und USA) zu provozieren.
Ein zweites Grossthema schien der mögliche Beitritt Schwedens zu werden, der vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (69) blockiert wurde (Entscheidungen müssen in der Nato einstimmig gefällt werden). Am Vorabend des Gipfels wurde aber überraschend bekannt, dass Erdogan seinen Widerstand aufgibt. Der türkische Präsident habe bei einem Treffen mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson zugestimmt, das Beitrittsprotokoll so bald wie möglich dem türkischen Parlament vorzulegen, sagte Nato-Chef Jens Stoltenberg (64) am Montagabend.
3) Welche Szenarien gibt es für die Ukraine?
Denkbar wäre, dass die Nato der Ukraine Sicherheitsgarantien gibt, wie sie etwa zwischen Amerika und Israel existieren. Die USA haben dem jüdischen Staat versprochen, dass er militärisch stets «einen Schritt voraus sein» werde. Durch die regelmässige Lieferung von modernen Waffen könnte die Nato die Ukraine in eine ähnliche Lage bringen.
Nicht vergessen dürfe man, dass ein ukrainischer Beitritt auch im Interesse der Nato sei, sagt Kotryna Jukneviciute, Verteidigungs-Expertin beim US-Militär-Thinktank Rand Corporation, zu Blick. «Kein einziges Nato-Land versteht das russische Militär, aber auch die russische Kultur so gut wie die Ukraine. Die Nato könnte extrem von der Erfahrung der Ukraine profitieren», betont die Litauerin.
4) Was sind die grössten Probleme des Verteidigungsbündnisses?
Kaum ein Mitgliedsland gibt die vorgesehenen zwei Prozent seines Staatshaushaltes für Verteidigung aus. Sprich: Das Bündnis lafert mehr, als es liefert. Das kann gefährlich werden – vor allem dann, wenn nächstes Jahr der Nato-Kritiker Donald Trump (76) erneut zum US-Präsidenten gewählt würde. Er drohte der Nato schon einmal mit dem amerikanischen Austritt.
Auch die Tatsache, dass sämtliche Entscheidungen einstimmig gefällt werden müssen, macht die Sache kompliziert. Putin-Versteher wie Erdogan oder der ungarische Präsident Viktor Orban (60) können die übrigen Nato-Mitglieder so leicht erpressen.
5) Warum ist die Suche nach einem neuen Nato-Chef so schwierig?
Der frühere norwegische Premierminister Jens Stoltenberg (64) musste seinen geplanten Rücktritt als Nato-Generalsekretär schon zum zweiten Mal verschieben, weil sich kein Nachfolger finden liess. Mitten in der Krise das Spitzenpersonal zu wechseln, wäre potenziell gefährlich. Zudem sind die Ansprüche an die neue Führungsfigur hoch. Am liebsten wäre den meisten Mitgliedsländern eine Frau, wenn möglich aus einem Land, das die Zwei-Prozent-Verteidigungsausgaben-Bedingung erfüllt. Im Baltikum gäbe es einige Kandidatinnen: die estnische Präsidentin Kaja Kallas (46) etwa, oder deren Vorgängerin Kersti Kaljulaid (53).