In wenigen Stunden wäre Kryszina Zimanouskaja (24) eine Konkurrentin unseres Sprint-Stars Mujinga Kambundji (29) gewesen. Über 200 m wollte sich die Belarussin für die nächste Runde qualifizieren. Doch dazu kommt es nicht. Das Nationale Olympische Komitee Belarus erklärte auf Telegram, die Läuferin sei von einem Arzt untersucht worden und werde wegen ihrer «emotional-psychischen Verfassung» nicht an weiteren Wettkämpfen teilnehmen.
Die Leichtathletin aber sagt: Ihr Komitee lügt. Sie sei kerngesund. Stattdessen möchte Belarus-Diktator Alexander Lukaschenko (66) sie entführen! Weil sie öffentlich Kritik geübt habe.
Zu wenig Dopingtests, falsche Disziplinen
Zwei Betreuer seien am Sonntag in ihr Zimmer gekommen und hätten ihr gesagt, sie solle ihre Sachen packen. Anschliessend seien sie gemeinsam zum Flughafen gefahren, erzählt Zimanouskaja der Nachrichtenagentur Reuters. Dort hätte sie in ein Flugzeug steigen und nach Belarus zurückfliegen sollen.
Ihre Geschichte klingt plausibel. Denn wenn Lukaschenko etwas nicht mag, sind es Landsleute, die eigene Gedanken haben. Und Zimanouskaja beschwerte sich in den Tagen zuvor auf Social Media über ihre Trainer. Sie erklärte, viele belarussische Athleten hätten nicht genügend Doping-Tests gemacht und hätten darum zu Hause bleiben müssen. Sie hätte darum an deren Stelle in Disziplinen antreten sollen, für die sie nicht trainiert sei. Zur Nachrichtenagentur Reuters sagte sie: «Die Trainer nominierten mich ohne mein Wissen für die 4x400m Staffel. Darüber habe ich öffentlich geredet. Danach kam der Cheftrainer zu mir und sagte, jemand von weiter oben habe angeordnet, mich aus dem Team zu entfernen.»
Asyl in Deutschland oder Österreich
Doch die Belarussen hatten nicht mit Zimanouskajas Kampfgeist gerechnet. Am Flughafen widersetzte sie sich ihrem Regime. Mittels Video bat sie das Internationale Olympische Komitee um Hilfe: Man versuche, sie ohne ihre Zustimmung ausser Landes zu bringen. Am Flughafen schaffte sie es zudem, die lokalen Behörden auf sich aufmerksam zu machen. «Ich bin mit der Polizei», sagt sie gegenüber Reuters. «Ich denke, ich bin sicher». Die Polizei bestätigte, eine Athletin aus Belarus sei mit ihnen am Flughafen.
Das Belarussische Olympische Komitee äusserte sich bisher nicht weiter. Auch von Lukaschenko ist nichts zu hören. Mittlerweile untersucht das Internationale Olympische Komitee (IOC) den Fall.
Kritik wird bestraft
Alexander Lukaschenko ist seit 1994 Präsident von Belarus. Kritik am Diktator wird von dessen Regime häufig als «psychische Störung» bezeichnet, Oppositionelle unter diesem Vorwurf eingesperrt.
Vergangenes Jahr protestierten zahlreiche Menschen in den Strassen von Belarus gegen Lukaschenko. Darunter auch prominente Athleten wie Basketballspielerin Alena Leutschanka oder Zehnkämpfer Andrej Krautschanka. Sie wurden verhaftet, gemeinsam mit unzähligen anderen Regierungskritikern. Andere Demonstranten verloren ihre Jobs beim Staat oder wurden aus Nationalteams geworfen.
«Sich so zu verhalten, ist schon verwirrend»
Die im Exil lebende belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja (38) sagte zu «Bild»: «Das ist ein weiterer Beweis für die Unmenschlichkeit und Unzulänglichkeit des Regimes. Sich während des grössten Sportereignisses so zu verhalten, das ist schon verwirrend. Die Giftigkeit des Regimes nimmt weiter zu, es ist gefährlich für die ganze Welt. Diejenigen, die das Regime unterstützen, riskieren, an seiner Giftigkeit teilzuhaben.»
Gegenüber Reuters sagte eine anonyme Quelle, Zimanouskaja plane, am Montag um Asyl in Deutschland oder Österreich zu bitten. Die Olympischen Spiele dürften ohne die Belarussin weitergehen. (vof)