Jahrelang diskutierte er auf der internationalen Politbühne mit und schüttelte die Hände der wichtigsten Staatsvertreter, bis er am 24. Februar 2022 den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gegeben hat. Wie hatte die Welt den russischen Präsidenten Wladimir Putin (70) doch falsch eingeschätzt! Nur wenige Politiker und Experten hatten ihm einen solchen Schritt zugetraut.
Diese Unberechenbarkeit gibt Anlass zur Besorgnis, wenn man an sein riesiges Atomwaffenarsenal denkt. Mit 6255 Sprengköpfen hat Russland das grösste der Welt. Der Westen trimmt die ukrainische Regierung daher darauf, den Kreml auf keinen Fall mit Angriffen auf russischem Gebiet zu provozieren und in die Enge zu treiben. Auch während des Marsches von Wagner-Boss Jewgeni Prigoschin (62) nach Moskau am Samstag warnten westliche Verbündete die Ukraine davor, die Situation auszunützen und feindlichen Boden anzugreifen.
Dank und Angebot
Die Reaktion auf diesen Marsch nach Moskau hat uns aber eine unerwartete Seite Putins gezeigt. Nachdem ihn die Söldnertruppe mit ihrem schwer bewaffneten Konvoi arg ins Schwitzen gebracht hatte, vermied er in seiner Rede am Montag Kriegsrhetorik und Worte des Hasses. Vielmehr dankte er seiner Truppe und bot den Wagner-Kämpfern Lösungen an: sich der regulären Armee anzuschliessen, nach Hause zurückzukehren oder sich nach Belarus abzusetzen.
Wagner-Boss Prigoschin, den Putin zuerst als «Verräter» beschimpft hatte, kommt offenbar ungeschoren davon. Am Dienstag gab der Kreml bekannt, dass das gegen ihn eingeleitete Verfahren angesichts des Endes der «kriminellen Handlungen» eingestellt werde. Auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu (68), gegen den sich Prigoschins Kritik hauptsächlich richtet, darf im Amt bleiben.
Putin lebt von Angstmacherei
Seine Reaktion hat Putin entlarvt. Sie hat uns bestätigt, dass er nur die Sprache der Stärke versteht. Sie hat uns aber auch gezeigt, dass Putin nicht zwingend zu den äussersten Massnahmen greift und sogar zu gewissen Kompromissen bereit ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht.
Der ukrainische Journalist und Kriegsbeobachter Denis Trubezkoi schreibt auf Twitter über Putin: «Man sollte natürlich weiterhin vernünftig agieren, aber irrationale und übertriebene Ängste müssen endlich weggelassen werden. Endlich. Denn Putin lebt von diesen Ängsten der anderen – und nicht wirklich von der eigenen Stärke.»