Paris ist in Aufruhr. Wegen der Rentenreform, die Präsident Emmanuel Macron (45) ohne Abstimmung im Parlament durchgeboxt hat, kam es am Donnerstagabend in der französischen Hauptstadt zu Krawallen. Die Polizei nahm 217 Personen fest und stellte Parlamentarier unter Schutz.
Auch in anderen Städten wie Marseille, Dijon, Nantes, Rennes, Rouen, Grenoble, Toulouse und Nizza wurde demonstriert. Die Gewerkschaften riefen für den kommenden Donnerstag zu einem landesweiten Streik- und Protesttag auf.
Weil er Angst hatte, die notwendige Mehrheit im Parlament nicht zu gewinnen, ging Macron aufs Ganze. Er und die Regierung entschieden am Donnerstagnachmittag kurzfristig und mit Berufung auf einen Sonderartikel der Verfassung, das Renteneintrittsalter von heute 62 auf 64 Jahre zu erhöhen.
Montag wird Macrons Schicksalstag
Dieser Schritt könnte ihn nun teuer zu stehen kommen. Am kommenden Montag stimmt die französische Nationalversammlung über einen Misstrauensantrag ab. Wird dieser abgelehnt, ist das neue Gesetz zur Rentenreform automatisch angenommen.
Im Falle einer Annahme tritt das neue Gesetz nicht in Kraft und es kommt verfassungskonform zum Sturz der Regierung unter Premierministerin Elisabeth Borne (61) – zum zweiten Mal in der Fünften Republik nach 1962. Dann stehen Präsident Macron zwei Möglichkeiten zur Wahl: Einen neuen Premier zu ernennen mit dem Auftrag, eine neue Regierung zu bilden, oder das Parlament aufzulösen und neue Wahlen anzusetzen.
Gilbert Casasus (67), emeritierter Professor für Europastudien, sagt gegenüber Blick: «Der Wahlausgang ist zurzeit völlig offen.»
«Reform ist illegitim»
«Was Macron gemacht hat, ist ein parlamentarischer Trick», sagt Casasus weiter. Damit sei seine Reform nicht nur unpopulär, sondern auch illegitim. «Frankreich steht aufgrund dieser Fehlentscheidung Macrons und seiner Regierung vor einem Scherbenhaufen und einer sich abzeichnenden sehr schweren politischen Krise.»
Die Debatte um die Rentenreform habe gezeigt, dass der Präsident nun über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfüge. Sein Entscheid könnte bei Neuwahlen zu einem Sieg der Extremen – wie einer Marine Le Pen (54) am rechten Rand – führen und zu einem weiterhin unregierbaren Land, meint Casasus.
Massiver Widerstand
Die neue Reform wird von vielen als ungerecht eingestuft, weil sich vor allem schlecht bezahlte, langjährige und ältere Angestellte benachteiligt fühlen. Das betrifft auch Frauen, die oft unregelmässig gearbeitet haben.
Die Rentenreform gehört zu den wichtigsten Wahlversprechen Macrons. Er wollte sie schon in seiner ersten Amtsperiode anpacken, allerdings störten die Gelbwestenstreiks und Corona das Vorhaben. Er wusste, dass er auf massiven Widerstand stossen würde: Der gescheiterte Versuch von Jacques Chirac (1932–2019) im Jahr 1995 zur Anhebung des Rentenalters löste eine gigantische Welle landesweiter Streiks aus. Auch 2010 kam es zu massiven Widerständen, als Nicolas Sarkozy (68) das Rentenalter erfolgreich von 60 auf 62 Jahre anhob.
Faule Franzosen?
Macron hat die Rentenreform angekündigt, um das drohende Staatsdefizit abzufedern. In andern europäischen Ländern beobachtet man die Erhöhung des Rentenalters mit Genugtuung – so etwa in Deutschland, wo man bald bis 67 arbeiten muss. Denn den Franzosen wird vorgeworfen, dass sie sich ihr bisher tiefes Rentenalter durch andere EU-Staaten finanzieren liessen.
Das lässt Casasus nicht gelten. Die Franzosen als «faul» zu bezeichnen, wie es immer heisst, ist für ihn eine «inakzeptable Demütigung». Er verweist auf die hohe Arbeitsproduktivität und sagt: «Frankreich gehört zu den wichtigsten Geldgeberstaaten der EU. Die Franzosen arbeiten und zahlen mehr als manche andere Europäer.»
Zudem verfüge Frankreich im Vergleich zu andern Staaten über eine viel günstigere Bevölkerungsstruktur. Wegen der insgesamt zufriedenstellenden Geburtenrate habe das Land mittelfristig weniger mit einer überalterten Bevölkerung zu kämpfen.
Angriff auf die «soziale Seele»
«Macron ist selber schuld», sagt Casasus über die Proteste. Vor seiner Wiederwahl im April 2022 habe er eine zwar nicht unumstrittene Rentenreform vorgeschlagen, die er nun wegen der neuen parlamentarischen Verhältnisse über Bord geworfen habe. Damals sprach er sich für ein sogenanntes Punktesystem aus, das aus Sicht einiger Sozialpartner nicht abgelehnt wurde. Casasus: «Ein Jahr später hat er es geschafft, alle Gewerkschaften gegen sich zu einen und somit zu einer Front aller Arbeitnehmerorganisationen beizutragen.»
Zweidrittel der Franzosen empfänden die Rentenreform als Angriff auf die «soziale Seele», sagt Casasus. Und der französisch-schweizerische Doppelbürger fasst zusammen: «Die Franzosen arbeiten, um zu leben, und leben nicht, um zu arbeiten.»