Die Ukrainer machen gegen die russischen Invasoren Druck: Zu Beginn der grossen Gegenoffensive im Süden haben sie Boden gutgemacht. Präsident Wolodimir Selenski (44) sprach von Rückeroberungen von mehreren Gebieten. «Die ukrainischen Flaggen kehren zurück», sagte er.
Erstes grosses Ziel wird die Rückeroberung der Stadt Cherson sein, die die Russen schon kurz nach Beginn der Invasion eingenommen hatten. «Die ukrainischen Einwohner von Cherson warten und freuen sich auf die Offensive der ukrainischen Truppen», sagt Konstantin Ryzhenko (28) zu Blick.
Ryzhenko ist Journalist und Aktivist. Er lebte in Cherson im Untergrund, bis er am 21. August mit gefälschten Dokumenten – er gab sich als Buchhalter aus – nach Kiew geflohen ist. Zurzeit hilft er von der Hauptstadt aus mit, den Widerstand in Cherson zu organisieren und ist mit dem Nachrichtendienst des Verteidigungsministeriums in ständigem Kontakt.
200 SMS pro Stunde
Ryzhenko erklärt Blick via Skype, wie der Widerstand in Cherson funktioniert. «Seit die Himars-Raketen in Cherson einschlagen, erleben wir eine neue Welle des Informationsaustauschs», berichtet Ryzhenko. Seine Landsleute würden ihm durchgeben, wo sich die Russen versteckten und wo ihre Waffen stünden. «Sie sind hoch motiviert, bei der Gegenoffensive zu helfen. Ich erhalte pro Stunde bis 200 SMS.»
Die Widerstandsbewegung in Cherson teile sich in mehrere Abteilungen auf. Ryzhenko: «Jemand liefert Informationen, andere verfolgen Personen oder nehmen an Militärübungen teil, erfahrene Leute betreiben Sabotage. Aber auch einfache Bewohner leisten Widerstand, indem sie zum Beispiel Boykott betreiben oder Informationen der Russen unterdrücken. Alle, die sich irgendwie wehren können, wehren sich.»
Mit Gift und Mistgabeln gegen Russen
Die Besatzer haben angekündigt, in Cherson ein Referendum über den Anschluss an Russland abzuhalten. «Sie können diese Abstimmung durchführen», meint Ryzhenko, «aber sie werden das Gebiet nie halten können.»
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Sobald die reguläre Armee abziehen würde, wäre Widerstand aus der Bevölkerung zu erwarten. «Jemand wird ertränkt, jemand wird gehängt, jemandem wird mit einer Mistgabel in die Rippen gestochen, eine Autowerkstatt wird ihre Bremsen mit Öl schmieren, jemand wird irgendwo Gift versprühen. Schon eine einzige Minute ohne Kontrolle wird ausreichen», sagt Ryzhenko.
Der Albtraum folgt erst noch
Die Ukrainer lebten in Cherson seit sechs Monaten ohne Einkommen, nur von ihren Ersparnissen. Ausserdem benötigten viele psychologische Hilfe. Viele Menschen würden gefoltert, zum Teil bis zum Tod.
Vom ersten Tag der Besatzung an hätten die Russen begonnen, die Stadt zu plündern. Und sie wüssten, dass ihre Zeit in Cherson bald ablaufe. Ryzhenko: «Sie brechen in Häuser ein und nehmen alles mit, was sie brauchen können: Geräte, Mähdrescher, Maschinen – jetzt wird vor allem Metall gestohlen.»
Der grosse Schock werde aber erst noch folgen, meint Konstantin Ryzhenko. «Der Albtraum wird beginnen, wenn wir die Massengräber in Cherson öffnen, wenn wir die Brandherde aufräumen, die Folterkammern öffnen und in die Keller schauen. Dann werden wir erkennen, dass das Massaker von Butscha kein Einzelfall war.»