Es ist ein Tondokument mit Sprengkraft: Iwan Popow (48), Oberbefehlshaber der im Süden der Ukraine stationierten 58. Armee, richtet sich mittels einer auf Telegram verbreiteten Audioaufnahme an seine Truppe.
Popow wendet sich immer wieder von Seufzern unterbrochen an seine «Gladiatoren», wie er seine Untergebenen nennt. «Ich werde ehrlich zu euch sein: Die Situation ist kompliziert.» Er habe gegenüber der Armeeführung nicht länger still bleiben können. «Ich habe an höchster Stelle offen und ehrlich darüber gesprochen.»
«Grösste Tragödie des modernen Kriegs»
Er habe auf Probleme und Schwierigkeiten bei der Logistik und beim Kampf selbst – seine Armee ist bei Saporischja stationiert – hingewiesen. «Ich habe die Aufmerksamkeit auf die grösste Tragödie des modernen Kriegs gelenkt – auf das Fehlen der Artillerieaufklärung und -bekämpfung und die vielfachen Toten und Verletzten durch die feindliche Artillerie.»
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Auf Telegram berichten russische Kriegsblogger, dass Popow Generalstabschef Waleri Gerassimow angeboten habe, Putin höchstpersönlich mit Belegen über die Situation zu informieren. Dieser habe ihn als «Panikmacher» bezeichnet. Popow sagt in seiner Botschaft, das Verteidigungsministerium habe sich seiner sofort entledigt.
«Armee im schwersten Moment enthauptet»
Popow hält nun mit Kritik nicht zurück: «Die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte konnten unsere Front nicht durchbrechen, aber von hinten hat uns der Oberbefehlshaber einen verräterischen Schlag versetzt, indem er die Armee im schwersten Moment der höchsten Anspannung enthauptet hat.»
Der Konflikt eskaliert am 10. Juli. Einen Tag später schlägt eine «Storm Shadow»-Rakete der Ukraine in einem Hotel in Berdiansk ein – und tötet General Oleg Tsokow (†51). Popow befand sich zum Zeitpunkt des Einschlags nicht mehr dort.
Unzufriedenheit bei den russischen Streitkräften
Die Entlassung und Kritik Popows fügt sich in das Bild, das Militärexperten von der russischen Armee gut 16 Monate nach Beginn des von Kremlchef Wladimir Putin befohlenen Angriffskriegs gegen die Ukraine zeichnen. Demnach herrscht in grossen Teilen der russischen Streitkräfte Unzufriedenheit mit der eigenen Militärführung und deren geschönten Lageberichten.
Auch der am Ende missglückte Aufstand der lange für Moskau kämpfenden Privatarmee Wagner richtete sich explizit gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Söldnerchef Jewgeni Prigoschin Korruption und Unfähigkeit vorwarf. (neo/SDA)