«Ich habe in den vielen Jahren, in denen ich Anwältin bin, gelernt, dass niemand böse auf die Welt kommt. Es gibt immer einen Grund für Taten wie Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung und so weiter», sagt Astrid Wagner zu «Focus». Die Strafverteidigerin weiss, wovon sie spricht. Sie hat in ihrer Karriere schon besonders grausame Fälle erlebt und verteidigt. Der bekannteste Fall: Josef Fritzl (89).
Er hatte seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem Kellerverlies in der österreichischen Kleinstadt Amstetten gefangen gehalten, regelmässig missbraucht und sieben Kinder mit ihr gezeugt, von denen eines kurz nach der Geburt starb.
Drei der überlebenden Kinder wurden von Fritzl und seiner Frau Rosemarie in ihrem Haus aufgezogen. Die anderen mussten mit ihrer Mutter im Keller leben, ohne je das Tageslicht zu sehen. Erst die Einlieferung der schwer erkrankten ältesten Tochter im April 2008 brachte die Taten ans Licht. Fritzl wurde im März 2009 zu lebenslanger Haft verurteilt.
«Man hasst, was in einem selbst ist»
Der Fall machte weltweit Schlagzeilen. Fritzl wurde als das «Monster von Amstetten» bekannt. Und das stört Wagner bis heute. «Ich finde es nicht richtig, ihn als Monster zu bezeichnen. Natürlich hat er etwas Furchtbares getan. Aber das erklärt nicht, warum man ihn als Menschen auf ein Monster reduziert.» Die Juristin hat eine Vermutung: «Ich glaube, dass die Dunkelziffer an Josef Fritzls in der Gesamtbevölkerung sehr hoch ist. Man hasst, was in einem selbst ist. Die eigenen dunklen Begierden werden projiziert – auf Personen wie Josef Fritzl.»
Dass sie Fritzl verteidigt und auch andere grausame Täter und Täterinnen, kann Wagner gut mit sich vereinbaren. «Ich habe nichts mit den Verbrechen zu tun. Ich habe keine Straftat begangen. Meine Aufgabe ist es, den Täter zu verteidigen, nicht die Tat. Ich muss erklären, warum er oder sie ein Verbrechen verübt hat. Das Motiv aufzeigen.»
Sie fordert Freilassung für Fritzl
Mit den vielen grausamen Details, die sie dabei erfährt, kommt sie gut klar. Es sei wie bei Gerichtsmedizinerin. «Sie schneiden auch an Toten herum. Wenn sie alles an sich heranlassen würden, den ganzen Schrecken der Verletzungen, der Todesfälle, die sie untersuchen müssen, dann könnten sie ihren Beruf wohl kaum ausüben», erklärt sie im Interview mit «Focus».
Vor kurzem habe sie zum Beispiel mit einer Mutter gesprochen, die ihre Töchter ertränkt hatte. Das eine Mädchen war sechs Jahre, das andere neun Monate alt. Die Mutter war dem Wahn verfallen, dass ihre Kinder «ein furchtbares Leben vor sich hätten und wollte sie erlösen. Das war im Hochsommer 2023. Jetzt bekommt sie Medikamente und der Wahn ist weg. Die Frau sieht, was sie getan hat. Und kann es nicht fassen.»
Der Fall Fritzl beschäftigt sie bis heute. Erst dieses Jahr erreichte die Anwältin, dass der 89-Jährige aus dem Massregelvollzug in ein Gefängnis verlegt werden soll. Nach der Verlegung will sie für Fritzl eine Freilassung auf Bewährung beantragen.