Amtszeit endete am Montag
Ist Selenski noch der legitime Präsident?

Am Dienstag endete die offizielle Amtszeit des ukrainischen Präsidenten. Neuwahlen hat es keine gegeben. Für das Land bricht eine neue Phase der Ungewissheit an. Und Selenski droht dasselbe Schicksal wie einst Winston Churchill.
Publiziert: 22.05.2024 um 12:10 Uhr
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Aktualisiert: 23.05.2024 um 09:27 Uhr
Er hatte eine schwierige erste Amtszeit: der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Foto: AFP
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Die Ukrainer wählen wie wild. Als das Land im Februar per Online-Voting darüber entschied, welcher Song die blau-gelben Farben am Eurovision Song Contest in Malmö vertreten soll, stürzte das System kurzzeitig ab, weil mehr als eine Million Menschen ihre Stimme abgeben wollten. Wahlen inmitten des Krieges sind also möglich – ausser, wenn es um die Nachfolge von Wolodimir Selenski (46) geht.

Die ukrainischen Präsidentschaftswahlen hätten diesen März stattfinden sollen. Am 20. Mai endete Selenskis fünfjährige Amtszeit offiziell. Ein neuer Präsident aber ist nicht gewählt. Die Zustimmungswerte für den alten sinken. Die Ukraine hat eine Phase der Unsicherheit betreten, die dem Land gefährlich werden könnte.

Russische Kreise machen sich Selenskis «Illegitimität» zu Nutzen, um Stimmung gegen den Ex-Komiker zu machen. Mit Verweis auf Russland, das im März Präsidentschaftswahlen durchführen liess, trällert Moskau, jetzt zeige sich, wer eine richtige Demokratie und wer bloss eine heuchlerische Fassade sei.

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Er hatte eine schwierige erste Amtszeit: der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Foto: AFP

Amerika hat geschafft, was der Ukraine nicht gelingt

Der Kreml-Nachbeter und belarussische Regierungschef Alexander Lukaschenko (69), alles andere als ein ausgewiesener Demokrat, mokiert sich bereits darüber, dass Selenski als nicht-gewählter Präsident gar nie eine gültige Unterschrift unter irgendeinen Friedensvertrag mit Russland werde setzen können.

Aber mal ehrlich: Wie soll ein Land, das rund einen Fünftel seines Territoriums an einen Aggressor verloren hat, aus dem rund ein Viertel der Bevölkerung geflohen ist und das mindestens 900'000 Männer und Frauen im aktiven Kriegsdienst hat, überhaupt legitime Wahlen durchführen? Oleksiy Danilow (61), einer der engsten Berater Selenskis, sagte gegenüber Blick kürzlich: «Wo sollen die Bewohner von Bachmut wählen gehen? Wie soll ein Soldat im Frontgraben seine Stimme abgeben?» Präsidentschaftswahlen in einem Krieg durchzuführen, sei ein Ding der Unmöglichkeit.

Historisch gesehen liegt Danilow falsch. Amerika etwa liess sowohl im Ersten Weltkrieg (1916) als auch im Zweiten Weltkrieg (1940 und 1944) Präsidentschaftswahlen durchführen, obwohl das Land mindestens im Zweiten Weltkrieg nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 direkt militärisch betroffen war. Zugegeben: Ein brennendes Pearl Harbor auf Hawaii war nicht dieselbe Bedrohung für Washington, wie es der stete russische Raketenterror auf weite Teile der Ukraine aktuell für Kiew ist.

25'000 Unterschriften zwingen Selenski zum Handeln

Zahlreiche andere historische Beispiele zeigen, dass die Demokratie inmitten kriegerischer Zeiten sehr wohl hie und da pausiert werden musste, um das Überleben einer Nation zu sichern. So setzte Grossbritannien seine Wahlen 1915 und 1940 aus. Bei den nachgeholten Wahlen 1945 musste Kriegsheld und -Premier Winston Churchill (1874–1965) dann seinen berühmten Hut nehmen, weil ihm das Wahlvolk nicht zutraute, dass er das Land auch in Friedenszeiten weise führen könne.

Im Fall der Ukraine ist die Sache klar: Artikel 108 der 1996 verabschiedeten Verfassung besagt, dass der Präsident seine Macht innehat, bis ein neuer Präsident das Amt übernimmt. Zudem hält die Verfassung fest, dass Wahlen unter Kriegsrecht verboten seien. Selenski liess das Kriegsrecht am Tag des russischen Angriffs (24. Februar 2022) ausrufen und seither alle 90 Tage verlängern. Legitime Wahlen hätten also gar nicht stattfinden können.

Das allerdings bedeutet nicht, dass die ukrainische Demokratie ausser Kraft gesetzt wäre. Das Parlament tagt und verabschiedet Gesetze. Zudem kann jeder mündige Bürger Online-Petitionen lancieren. Sobald diese mindestens 25'000 Unterzeichner haben, muss Selenski sich mit ihnen befassen und reagieren.

Selenski droht dasselbe Schicksal wie Churchill

Dass die Ukraine – sollte sie den Krieg überstehen – in Friedenszeiten wieder Wahlen durchführen wird, daran bestehen kaum Zweifel. Gut möglich, dass Selenski dann dasselbe Schicksal ereilt wie einst Churchill. Von den sechs Präsidenten, die die Ukraine seit ihrer Staatsgründung 1991 regierten, hat nur ein einziger die Wiederwahl geschafft.

Zudem bringt der Krieg neue Volkshelden hervor (etwa den einstigen General und jetzigen Grossbritannien-Botschafter Valery Saluschny oder Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko), die Selenski auf dem politischen Parkett gefährlich werden könnten. Nicht zu vergessen: Sieben Millionen Ukrainer sind laut der Weltbank seit Beginn des Krieges in die Armut abgerutscht. Millionen haben alles verloren und mussten in andere Landesteile fliehen. Der Frust und damit der Nährboden für populistische Ideen ist gross.

Falls Selenski also den Krieg gewinnt, wird er sich im Nu in einem neuen Kampf wiederfinden.

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