Russland hat eine neue Grossoffensive auf die Ukraine gestartet. Das bestätigte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) am Freitagnachmittag. Bis zu 50'000 Soldaten, 400 Panzer und weit über 100 Artilleriesysteme soll Kreml-Chef Wladimir Putin (71) im Grenzgebiet nördlich der ukrainischen Grossstadt Charkiw zusammengezogen haben.
In den frühen Morgenstunden versuchten russische Bodentruppen unter Feuerschutz, die Kleinstadt Woltschansk an der russisch-ukrainischen Grenze zu überrennen. «Die Kämpfe dauern in mehreren Grenzabschnitten an», lässt das ukrainische Verteidigungsministerium mitteilen. Die Behörden rufen die Menschen auf, die Gegend sofort zu verlassen. Das alles aber ist nichts anderes als ein gefährliches Ablenkungsmanöver, auf das die Ukraine ja nicht hereinfallen darf.
Um das vorwegzunehmen: Kaum ein Militärexperte der Welt geht davon aus, dass Russland derzeit in der Lage wäre, die 1,4-Millionen-Metropole Charkiw einzunehmen. Die neue Offensive dürfte maximal erreichen, dass ein rund zehn Kilometer breiter Landgürtel entlang der Grenze unter russische Kontrolle fällt. Das würde Putins Truppen in eine deutlich bessere Position bringen, um den Raketen- und Bombenterror auf Charkiws Zivilbevölkerung noch einmal zu intensivieren und damit die Moral des kriegsgebeutelten Landes zu torpedieren.
Was Russland mit der Offensive wirklich erreichen will
Rein militärisch aber geht es den Russen laut dem ukrainischen Militärexperten Jewhen Semechin (38) um etwas anderes: «Sie wollen eine grosse Verschiebung unserer Truppen weg vom Donbass in den Norden provozieren. Sie wollen, dass wir unsere besten Kämpfer aus Donezk abziehen», erklärt Semechin gegenüber Blick.
Das könnte den Russen tatsächlich gelingen. Die Ukraine hat kaum frische Reservisten, die sie aus dem Hinterland in die jetzt angegriffene Region rund um Charkiw schicken könnte. Seit Monaten kämpft Selenski auf allen Ebenen um motivierte Ersatzkräfte. Doch die Männer fehlen. Die Slowakei vermeldete diese Woche eine Verdoppelung der geflohenen Ukrainer im wehrfähigen Alter, die sich in ihrem Land vor dem Wehrdienst verstecken wollen.
Und prorussische Telegram-Kanäle verbreiten Videos, auf denen massenweise leerstehende Autos an den Rändern der Strasse entlang der ukrainisch-moldawischen Grenze stehen: wohl zurückgelassen von Verzweifelten, die vor dem Marschbefehl ins Ausland flohen.
Selenskis bitteres Meeting am Freitagmorgen
Die neue russische Offensive bei Woltschansk, das zu Beginn des Krieges bereits einmal von Putin erobert und im Rahmen der ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022 wieder befreit worden war, kommt für die Ukraine in einem heiklen Moment. Die versprochenen und zugesicherten Waffen aus den USA sind noch nicht an der Front angekommen. Die F-16-Kampfjets, die die Ukraine zur Abwehr der massenhaft von Russland eingesetzten, alles zerstörenden 1,5-Tonnen-Gleitbomben dringend bräuchte, kommen allerfrühestens im Sommer.
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Die Ukraine hat wenig, was sie den Russen entgegenhalten kann – ausser die Aussicht auf den baldigen Munitionssegen aus Washington. Kommen die neuen Waffenpakete aus Amerika erst einmal im Frontgebiet an, könnte sich der Wind erneut drehen und die russische Offensive verpuffen. Bis dahin aber wird sich der brutale Blutzoll, den die Ukraine bezahlen muss, noch einmal deutlich erhöhen.
Ironischerweise traf sich Präsident Selenski ausgerechnet am Freitagmorgen kurz nach dem Start der neuen Offensive mit ukrainischen Priestern und kirchlichen Würdenträgern, um über Seelsorge für die Kämpfer zu sprechen. Sie werden viel zu tun haben – die Kämpfer, und die Seelsorger.