Kampfzone Georgia
Mit Gottes Hilfe direkt nach Washington

Herschel Walker und Raphael Warnock ringen in Georgia um einen Platz im US-Senat – mit Unsummen von Geld und Hasstiraden gegen den Gegner. Reportage aus einem umkämpften Bundesstaat.
Publiziert: 06.11.2022 um 00:48 Uhr
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Aktualisiert: 06.11.2022 um 15:49 Uhr
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Der Demokrat Raphael Warnock (l.) und der Republikaner Herschel Walker streiten sich in Georgia um einen Sitz im US-Senat.
Foto: keystone-sda.ch
Samuel Schumacher, Georgia

Der Bus steht genau falsch herum. Ein Helfer auf dem Parkplatz in der Kleinstadt Clarkston versucht noch, den Fahrer zum Umdrehen zu bewegen. Doch der winkt ab. Raphael Warnock (53), sein mächtiger Fahrgast, muss durch die Hintertür aussteigen.

Nicht gerade ein gelungener Auftakt für die Show, die der US-Senator für einen seiner allerletzten Wahlkampfauftritte in Georgia geplant hat. Dabei ist Show alles, worum es dem schwarzen Pastor im umkämpften Bundesstaat jetzt noch geht. Mehr als 100 Millionen Dollar hat Warnock in seinen Senats-Wahlkampf gesteckt, fast zehn Dollar für jeden einzelnen Bewohner des riesigen Südstaates. Es geht um viel, «sehr viel», wie Warnock sagt. Wenn er das hauchdünne Rennen gegen seinen republikanischen Herausforderer Herschel Walker (60) verliert, ist ziemlich sicher Schluss mit der demokratischen Mehrheit im Senat, dem Ständerat der USA.

Rund 100 Fans sind angereist. Sie jubeln, schwenken Fahnen, rufen schon «Amen», als Warnock seine Rede gerade erst begonnen hat. Der Senator schnäuzt sich und fährt mit seiner Rede fort, die er in den vergangenen Wochen schon Hunderte Male gehalten hat. Er spricht vom Kampf zwischen Gut (also sich selbst) und Böse (seinem Gegner). Er sagt: «Das ist kein Fight zwischen rechts und links, das ist ein Entscheid zwischen richtig und falsch.»

Jambalaya, Jesus und Joey's Prophezeiung

Warnock, hauptberuflich Pfarrer in der Ebenezer-Baptisten-Kirche in Atlanta, wo einst Martin Luther King (1929–1968) gepredigt hat, tönt auch als Politiker genau so: wie ein Pfarrer. Viele Pausen, den Blick oft nach oben, die langen Finger mahnend in der Luft. Jetzt starrt er lange in die Menge auf dem kleinen Parkplatz und sagt dann: «Clarkston, du siehst aus wie Gottes Reich!»

An Gottes Reich erinnert vieles hier in Georgia, dem «Pfirsich-Staat» im Südosten der USA. Ganz im Süden, wo Alligatoren durch die riesigen Sumpfgebiete schwimmen und Jambalaya-Gerichte in den Pfannen historischer Küstenstädte brutzeln, hängt gefühlt an jedem zweiten Haus ein Plakat mit der Aufschrift: «Jesus ist der Retter!». In jedem noch so kleinen Weiler, an dem man auf dem Weg durch die waldigen Weiten Richtung Norden vorbeikommt, steht mindestens eine Kirche, oft nicht mehr als ein Wohncontainer mit aufgesetztem Miniturm. Und mitten in Atlanta, der Hauptstadt, dem Sitz von CNN, Coca-Cola und dem an Passagieren gemessen grössten Airport der Welt (75 Millionen Fluggäste pro Jahr), thront die historische Ebenezer-Baptisten-Kirche, das berühmteste schwarze Gotteshaus im Land.

Joey Henderson (66) steht im Park daneben und stützt sich auf sein altes Fahrrad. Er lächelt fast zahnlos in die warme Novembersonne. Sein Atem riecht nach starkem Kaffee, sein Akzent tönt nach tiefem Süden, seine Meinung zu den anstehenden Zwischenwahlen ist klar: «Gott hat das doch alles vorweggenommen. Der richtige Kandidat wird gewinnen. Gottes Masterplan steht.»

Ex-Football-Star Herschel Walker will Washington auf den Kopf stellen
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Vielen gilt der Abtreibungsgegner als unantastbar

Ganz ähnlich sieht das Herschel Walker (60), Ex-Football-Star, einst olympischer Bobfahrer, Vater von mindestens vier Kindern von mindestens vier Frauen, republikanischer Kandidat für das wahrscheinlich wichtigste Senatsrennen bei den Zwischenwahlen am kommenden Dienstag. «Gott hat mich mein ganzes Leben lang auf diesen Kampf vorbereitet», ruft Walker ins Mikrofon in der Auffahrt einer riesigen Shoppingmall im Städtchen Richmond Hill. Um ihn herum steht eine Highschool-Klasse und schwenkt frenetisch «Herschel Walker»-Plakate, gleich dahinter sein Wahlkampf-Bus. Er hat richtig geparkt. Show: Das kann Herschel Walker. Deswegen melden jüngste Umfragen eine kurz bevorstehende Sensation: Raphael Warnock, der Demokrat, muss um seinen Senatssitz in Washington fürchten.

In Georgia ist Walker so was wie ein irdischer Heiliger. In den 1980er-Jahren hat er, der damals beste Nachwuchsfootballer des Landes, für die «Bulldogs» gespielt, das Team der University of Georgia. Deren Stadion hat 92'000 Sitzplätze, fast dreimal mehr als das Basler Joggeli. Die Footballer sind der ganze Stolz des Südstaates. Die «Dawgs» werden von jeder Tankstelle mit Leuchtreklamen bejubelt, ihre Spiele überall live übertragen. Ihr grimmiges Logo ist im Alltag Georgias allgegenwärtig. Und ihr berühmtester Spieler Herschel Walker für viele immer noch «untouchable», unfehlbar.

Jetzt aber will Walker mehr als nur sportlichen Erfolg. Er will den politischen Touchdown. «Run, Walker, Run!», hat Donald Trump ihm 2021 zugerufen. Und Walker tat, wie ihm geheissen. Sein politisches Programm: ein radikales Potpourri aus Abtreibungsverbot, militärischer Aufrüstung und Antidrogenmassnahmen. Sein politisches Problem: die beiden Frauen, die ihm vorwerfen, dass er sie gegen ihren Willen zum Abbruch der Schwangerschaft gezwungen habe.

Walker warnt vor dem Lift in die Hölle

«Ich habe mich im Blut Jesu reingewaschen», ruft der strahlende Walker in die Menge vor der Shoppingmall. Jeder habe eine Geschichte, «aber dafür gibt es Vergebung. Gott hat mir vergeben. Und dieser Pastor aus Atlanta, der glaubt nicht an Vergebung, der ist ein Marxist!» Wer Warnocks Worten lausche, dem stehe eine Liftfahrt direkt in die Hölle bevor. Dann spricht Walker in Richmond Hill über seinen «Chevrolet, Baujahr 1969», über seinen siebten Platz als Bobfahrer an den Olympischen Winterspielen 1992, darüber, wie er «Jesus Christus nach Washington mitnehmen» werde und über den «heiligen Kampf», den er führen wolle. Politische Inhalte? Fehlanzeige. Die Show kommt auch ohne solche Details aus.

Klar ist: Beide Erleuchteten im wohl entscheidenden Kampf dieser «Midterms»-Wahlen wissen Gott auf ihrer Seite. Die Wählergunst aber könnte in beide Richtungen kippen. Das Rennen sei «too close to call», zu knapp für sichere Vorhersagen, halten die Statistiker fest. Klar aber ist: Mindestens eine Hälfte der Wählenden in diesem wunderbaren Staat wird sich am Dienstagabend fragen müssen, ob sie vielleicht dem falschen Götzen gehuldigt hat.

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