Wo der Mob tobte, ist es ein Jahr später still. Nur die Stimmen von Kamala Harris (57) und Joe Biden (79) dröhnen (in dieser Reihenfolge) durch die National Statuary Hall im US-Kapitol.
«Das Ziel der Extremisten, die durch diese Hallen zogen, war nicht nur ein Gebäude, so heilig es auch sein mag. Was sie angriffen, waren die Institutionen, die Werte, die Ideale, für die Generationen von Amerikanern marschiert sind, demonstriert und Blut vergossen haben, um sie aufzubauen und zu verteidigen», sagte Kamala Harris. Die Vizepräsidentin verglich den 6. Januar 2021, an dem fünf Menschen starben und 140 Polizeibeamte verletzt wurden, mit Pearl Harbor und dem 11. September 2001: «Daten, die nicht nur einen Platz in unseren Kalendern, sondern auch in unserem kollektiven Gedächtnis einnehmen.»
Die Demokratie habe an diesem Tag gehalten, doch die Gefahr sei nicht gebannt. «Am 6. Januar haben wir alle gesehen, wie unsere Nation aussehen würde, wenn die Kräfte, die unsere Demokratie demontieren wollen, Erfolg hätten: Die Gesetzlosigkeit. Die Gewalt. Das Chaos», sagte Harris.
Biden: «Trump ist sein Ego wichtiger als die Verfassung»
Draussen zeugt das Sicherheitsaufgebot von der Sorge vor neuer Gewalt: gepanzerte Fahrzeuge, Busse mit der Aufschrift «United States Capitol Police», Beamte auf Motorrädern, auf Velos oder zu Fuss sichern das Kapitol. In grossen und kleinen Gruppen. Sie stehen dicht vor dem Herzen der US-Demokratie.
US-Präsident Joe Biden liess in seiner Rede keine Zweifel daran, wer schuld an der blutigen Attacke hat. «Der Präsident sah sich das gemütlich im TV an», sagte Biden. Immer deutlicher und wütender wurde er während seiner Rede, während er über seinen Vorgänger im Weissen Haus sprach. «Er kann nicht akzeptieren, dass er verloren hat.» Trump sei sein Ego «wichtiger als die Verfassung».
Während Bidens Rede kreisen Helikopter über dem Kapitol. Vor den Polizisten, hinter einer meterhohen Umzäunung, stehen Journalisten, Schaulustige, Anwohner mit Kinderwagen. Die Augen der Menschen davor sind auf Handybildschirme gerichtet. Bewegt sich jemand ruckartig, gehen alle Blicke in Richtung der Bewegung. Doch es passiert nichts. Kein Geschrei, kein Protest, keine Trump-Anhänger. Ein Mann läuft fröhlich vorbei. Auf seinem T-Shirt steht: «Trump hat verloren. So richtig!»
Trump: Biden versagt «bei allem»
Die Reaktion aus dem Hause Trump lässt nicht lange auf sich warten: Trump-Sprecherin Liz Harrington meldet sich mit einer Mitteilung auf dem Kurznachrichtendienst Twitter zu Wort. «Biden versucht mit allen Mitteln, seine Inkompetenz zu verstecken», lässt sich Ex-Präsident Donald Trump in der Mitteilung zitieren.
Von Afghanistan, über das Coronavirus bis hin zur Energiepolitik Bidens: Trump wittert «Versagen, bei allem, was Biden berührt». Und er beendet die Mitteilung mit den Worten: «Das kriegt man, wenn man eine manipulierte Wahl durchzieht».
Kann Biden die USA wieder zusammenbringen?
Unter den Schaulustigen vor dem Kapitol herrscht derweil Einigkeit. Doch diese scheint zu täuschen. «Zum ersten Mal in unserer Geschichte hat ein Präsident nicht nur eine Wahl verloren, sondern versucht, die friedliche Machtübergabe zu verhindern», sagte Biden. «An diesem Gedenktag müssen wir dafür sorgen, dass ein solcher Angriff nie wieder geschieht.»
Biden erinnert auch daran, wie gespalten die Nation heute sei, wie fragil die Demokratie. «Wir müssen uns jetzt entscheiden, was für eine Nation wir sein wollen. Eine Nation, die politische Gewalt als Norm akzeptiert? Eine, in der wir zulassen, dass parteiische Wahlhelfer den rechtmässig ausgedrückten Willen des Volkes untergraben? Wollen wir eine Nation sein, die nicht im Licht der Wahrheit, sondern im Schatten der Lüge lebt?», sagte der US-Präsident. Und rief eindringlich auf: «Wir können es uns nicht erlauben, eine solche Nation zu sein. Der Weg nach vorn besteht darin, die Wahrheit zu erkennen und ihr zu folgen.»
Die Frage ist: Kann Biden die Nation «heilen», wie er das vor einem Jahr angekündigt hat? Führende Republikaner bleiben der Gedenkveranstaltung am heutigen Donnerstag fern. Mehr als 40 Prozent des Landes haben laut einer neuen Axios-Umfrage Zweifel an der rechtmässigen Wahl Bidens. Und die versöhnlichen Worte täuschen auch nicht darüber hinweg, dass meterhohe Zäune das Herz der US-Demokratie zum Jahrestag der Attacke sichern.