Vor dem US-Kapitol in Washington steht Stephen Parlato. Weisses Haar, weisse Haut, er zittert vor Kälte. «Ich bin hier, weil der Jahrestag des widerlichen Anschlags nur noch einen Tag entfernt ist», sagt Parlato. «Tag der Schändung. 6. Januar» steht auf seinem Schild. Er will daran erinnern, was hier, zwanzig Meter entfernt von den heute im Schnee tobenden Kindern, vor einem Jahr passiert ist: ein Angriff auf das Herz der amerikanischen Demokratie.
Sympathisanten des bereits abgewählten Präsidenten Donald Trump (75) brachen gewaltsam ins Kapitol ein, zerstörten, wüteten, wollten verhindern, dass der Wahlsieg des nun amtierenden Präsidenten Joe Biden (78) im Kongress bestätigt wird. Ein bildgewaltiger wie blutiger Aufstand. Fünf Menschen starben, 140 Polizeibeamte wurden verletzt, vier weitere nahmen sich in den folgenden Monaten das Leben.
Viele Abgeordnete «sind traumatisiert»
«Es ist noch immer sehr präsent im Kongress. Viele von uns sind traumatisiert», sagt der Abgeordnete Don Beyer (71), ehemals US-Botschafter in der Schweiz, zu Blick. Er selbst versteckte sich 16 Stunden lang in seinem Büro. «Doch das Gefährliche auch heute ist, dass unsere Demokratie wirklich in Gefahr ist. Leute denken, sie können Wahlergebnisse einfach kippen.»
Selbst der US-Vizepräsident hatte damals Todesangst. Denn der von Trump aufgestachelte Mob verlangte: «Hängt Mike Pence!» Zum Symbol der Aufrührer wurde der «QAnon-Schamane»: der 34-jährige Jake Angeli. Mit nackter Brust, gehörnter Fellmütze und Gesichtsbemalung in den Farben der US-Flagge stand er im Senatssaal. Heute sitzt er im Knast. Er ist einer der mehr als 70 Trump-Anhänger, die für ihre Taten bereits verurteilt wurden. 41 Monate muss er hinter Gitter.
Washington zwischen Normalität und Scham
«Über Washington hängt heute ein Schleier der Scham», sagt ein Anwohner. Die US-Flagge vor dem Kapitol hängt auf halbmast. Zeitweise ist es so still, dass man hört, wie der Wind an ihr reisst. Und dennoch ist es ein ganz normaler Tag in Washington.
Jogger laufen durch den Park, führen ihre Hunde spazieren, unterhalten sich über das Wetter. Spencer Buckley (22) steht mit zwei Freundinnen am Kapitol: «Ich sehe die Eilmeldungen vom letzten Jahr noch vor mir. Heute fühlt es sich trotzdem merkwürdig normal an.»
Touristen schiessen Fotos, lachen, posieren mit den Autos der Kapitol-Polizei. 35 Wagen der Polizei sind sichtbar, der Zugang zum Kapitol ist meterhoch abgezäunt. Zahlreiche Beamte umkreisen das Gebäude. Einige auf dem Velo, andere zu Fuss, in kleineren Gruppen oder einzeln.
Kleine Demos erlaubt – im Schnee hinterm Zaun
Erwartet man zum Jahrestag einen grossen Menschenauflauf? «Nein», sagt ein Kapitol-Polizist. «Man darf demonstrieren. In kleinen Gruppen, ohne Megafon. Sie werden einfach mitten im Schnee stehen müssen, hinter dem Zaun.»
Letztes Jahr kamen Tausende Trump-Anhänger, um einer Rede des bereits abgewählten Präsidenten zu lauschen. «Wir ziehen jetzt vor das Kapitol, um den Republikanern den Mut zu geben, den sie brauchen, um unser Land zurückzuerobern», sagte Trump.
Die Kapitol-Polizei war erstaunlich unvorbereitet. Dieses Jahr soll das anders sein. Die Abteilung sei für einen Notfall weit besser gerüstet als vor einem Jahr, stellte der zuständige Polizeichef bei einer Pressekonferenz am Dienstag klar.
Kapitol-Polizei unterbesetzt
Doch die Sicherheitsbehörden kämpfen mit dem nächsten unerwarteten Gegner: Omikron. Wegen hoher Ausfälle aufgrund von Erkrankungen und Quarantäne ist die Kapitol-Polizei unterbesetzt. Just zum Jahrestag des Angriffs können mehrere Türen personell nicht gesichert werden.
«Ich hoffe, dass es nicht gewalttätig wird», sagt Owen Brigner (21), der extra für den Jahrestag aus Ohio angereist ist. «Ich bin immer noch wütend. Die Trump-Anhänger wollten unsere Demokratie zerstören.» Er glaubt, dass sie dies erneut versuchen wollen. Nicht unbedingt am 6. Januar, aber bald. «Es ist angsteinflössend.»
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Biden spricht zum Volk
Für den heutigen 6. Januar wünscht er sich eine «starke Rede» von Joe Biden. Immerhin hätten die USA endlich wieder einen «normalen Präsidenten, der die Demokratie und das Land respektiert.» Brigners Wunsch könnte in Erfüllung gehen.
Biden plane, über «die Wahrheit» zu sprechen, kündigte seine Sprecherin Jen Psaki (43) im Hinblick auf die Wahlbetrugslüge an, die das Land spaltet. Doch wer sie bisher nicht hören wollte – der wird es wohl auch diesmal nicht. Der Sturm, da sind sich auch Experten einig, war erst der Anfang.