Es ist Geduldsarbeit: Stück um Stück haben die Ukrainer die sogenannten Drachenzähne der russischen Verteidigungslinie beseitigt. Die Panzersperren hinderten bisher die schweren Geräte an einem Vorstoss in russisch besetztes Gebiet.
Doch nun trägt die Geduldsarbeit Früchte. Beim Dorf Werbowe südöstlich von Saporischschja haben die Ukrainer einen wichtigen Durchbruch erzielt. Zum ersten Mal konnten sie deutsche Marder-Panzer und amerikanische Stryker-Radschützenpanzer hinter die mehrere Hundert Kilometer lange und bis zu 20 Kilometer tiefe Verteidigungslinie der Russen bringen.
Diese Verteidigungszone, nach dem russischen General auch Surowikin-Linie genannt, erstreckt sich über die gesamte Front im Süden und Osten der Ukraine. Sie ist nicht nur durch Beton-Drachenzähne geschützt, sondern auch schwer vermint und mit Gräben gegen feindliche Fahrzeuge gesichert. Bisher konnten die Ukrainer nur zu Fuss in die Zone eindringen.
Der Militäranalyst George Barros vom Institute for the Study of War schreibt auf X, ehemals Twitter: «Die ukrainischen Streitkräfte haben in den vergangenen Wochen ihre Grenzdurchbrüche ausgeweitet und bereiten sich möglicherweise auf einen neuen Vorstoss vor.»
Panzer als Taxis
Die Ukrainer seien vermutlich eine Landstrasse entlanggefahren, die durch die Graben- und Zahnlinien führe. Dies wertet er als Zeichen dafür, dass die Ukrainer in diesem Abschnitt wahrscheinlich die lokale russische Verteidigung besiegt habe. Die Ukrainer hätten von der Verteidigungslinie ein Stück von rund drei Kilometern Länge und bis zu zwei Kilometern Tiefe befreien können.
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Wie die Bild-Zeitung schreibt, dienten die Panzer den Ukrainern vor allem als Transportfahrzeuge für Soldaten, die unter heftigem Beschuss der Russen abgesetzt würden. Die Marder leisteten Feuerschutz und würden dann das Gefahrengebiet möglichst schnell wieder verlassen, um nicht von Artillerie oder Drohnen getroffen zu werden.
Die Soldaten würden sich zuerst verstecken und dann die von Russen erstellten Gräben erobern. Allerdings erfordere dieser Vorstoss einen hohen Blutzoll, mehrere ukrainische Soldaten seien beim Vorstoss ums Leben gekommen.
Bedeutender Schritt
ETH-Militärexperte Mauro Mantovani (60) erklärt die Bedeutung des Vorstosses: «Die Tatsache, dass die Ukrainer mit gepanzerten Fahrzeugen innerhalb der Hauptverteidigungsstellung der Russen operieren, ist bemerkenswert. Sie zeigt, dass es ihnen offenbar gelungen ist, die russische Artillerie und Panzerabwehr in diesem Raum auszuschalten.»
Es handle sich, militärisch gesprochen, um ein erweitertes «Gefecht der verbundenen Waffen» und eine fortgeschrittene «Schwerpunktbildung» der ukrainischen Armee. Mantovani: «Es ist vorläufig immer noch ein taktischer Einbruch, der allerdings gute Chancen hat, sich in einen operativen Durchbruch zu verwandeln.» Wie erfolgreich der Vorstoss weiterhin sein werde, hänge im Wesentlichen von den Reserven ab, die von beiden Seiten nachgeführt würden.
Mantovani zieht einen Vergleich zum Zweiten Weltkrieg: «Falls dieser Vorstoss der Auftakt zum Durchbruch der Ukrainer zum Asowschen Meer ist, wird ‹Werbowe 2023› zur Neuauflage von ‹Sedan 1940› werden.» Bei Sedan konnte die deutsche Wehrmacht die Maginot-Linie durchbrechen, um dann zur Nordsee vorzustossen, was schliesslich zu einem Waffenstillstand führte.