Nach dem Hamas-Angriff am Samstag hat sich die israelische Armee von ihrem Schock erholt. Sie hat 300’000 Reservisten eingezogen und rund um den Gazastreifen aufgestellt. Zu den Aufgebotenen gehört Arye Sharuz Shalicar (46), der lange Zeit in Deutschland lebte und heute in Jerusalem als Regierungsmitarbeiter angestellt ist. Seit Ausbruch des Krieges amtet er als Sprecher der Verteidigungskräfte (IDF).
Blick sprach mit ihm per Zoom über die Einsatzpläne der israelischen Armee, die Gefahr für die Geiseln und den Wunsch an die Schweiz.
Herr Shalicar, die israelische Armee hat den Grenzzaun wieder unter Kontrolle. Werden Sie nun in den Gazastreifen eindringen?
Arye Sharuz Shalicar: Der Grenzzaun ist unter relativer Kontrolle. Noch immer gibt es einige Dutzend Terroristen, die sich in der Nähe des Zauns verschanzt haben. Aus verständlichen Gründen kann ich das künftige Vorgehen der israelischen Armee nicht verraten.
Ist die Erstürmung des Gazastreifens denn überhaupt eine Option?
Zurzeit stehen alle Optionen offen. Und dazu gehört, den Gazastreifen nicht nur aus der Luft anzugreifen, sondern auch in ihn einzudringen.
Wie wollen Sie verhindern, dass bei Ihren Aktionen nicht die von der Hamas gefangen genommenen Geiseln und die palästinensische Zivilbevölkerung getroffen werden?
Es ist Teil des Modus Operandi der Terrororganisationen, dass sie Zivilisten und auch Kindergärten, Schulen, Spitäler und Moscheen als Schutzschilde benützen. Dieses Mal gehören auch israelisch-jüdische Geiseln dazu. Wir haben in ruhigen Zeiten Informationen gesammelt und gehen jetzt pinzettenartig vor, um Ziele der Terroristen-Infrastruktur zu treffen.
Wissen Sie, wo die Geiseln versteckt werden?
Die Geiseln werden als menschliche Schutzschilde tief im Gazastreifen, aber auch in Terrortunneln festgehalten. Dies macht die ganze Situation für uns um einiges schwieriger, dessen sind wir uns bewusst.
Israel hat die palästinensischen Zivilisten aufgerufen, den Gazastreifen Richtung Ägypten zu verlassen. Bis wann geben Sie ihnen Zeit, bevor Sie zuschlagen?
In Israel sind Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Menschen von den Grenzgebieten ins Innere gezogen, damit die Sicherheitskräfte an der Front ihren Job machen können. Wenn wir von einer rationalen Führung im Gazastreifen reden könnten, hätte die dasselbe gemacht. Aber es geschieht das Gegenteil: Alte und Kinder werden festgehalten und als Kanonenfutter missbraucht. Deshalb rufen wir die Menschen, die mit den Kriegshandlungen nichts zu tun haben, immer wieder auf, sich an sichere Orte im Streifen oder ins Ausland zu begeben.
Gestatten Sie Zivilisten die Einreise auch nach Israel?
Das ist zurzeit undenkbar, weil wir nicht wissen, wer alles reinschlüpfen würde. Wir befinden uns im Krieg mit zwei Terrororganisationen.
Wollen Sie die Hamas vernichten?
Die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah werden sich nicht von heute auf morgen in Luft auflösen. Das sind massive Terrorarmeen mit Zehntausenden bis auf die Zähne bewaffneten radikal islamistischen Kämpfern, die auch keine Angst davor haben, als Märtyrer in die Geschichte einzugehen. Wir wissen aber, dass im Endeffekt kein Weg daran vorbeiführen wird, diesen Terrororganisationen jetzt mal Kante zu zeigen und sie in die Knie zu zwingen. Jeder Angehörige ist im Visier der israelischen Armee, und ihre Infrastruktur wird nun aus der Luft eliminiert.
Kann man die Hamas mit der islamistischen Terrororganisation Islamischer Staat vergleichen?
Bis Samstag habe ich diesen Vergleich nicht gerne gezogen. Aber nachdem man gesehen hat, wie sie maskiert und schwer bewaffnet mit Pick-ups durch israelische Städte fahren, selbst Kleinkinder und alte Frauen verschleppen und ermorden und ihre Geiseln mit feierlichen Allahu-Akbar-Rufen vorführen, da kommt der Vergleich zum IS leider sehr, sehr nahe.
Der Angriff am Samstag kam überraschend. Haben die israelischen Geheimdienste versagt?
Wenn eine Invasion aus Sicht der Hamas so erfolgreich verlaufen konnte, ist es legitim, diese Frage zu stellen. Im Moment ist aber nicht der Zeitpunkt für bürokratische Untersuchungen. Im Moment befinden wir uns mitten im Krieg. Wir haben die vielen Leichen, Verletzten und Geiseln im Auge, die es schwierig machen, gerade jetzt über Versagen oder Nicht-Versagen von gewissen Diensten zu sprechen.
Wie kamen die Raketen in den Gazastreifen?
Vor zehn Jahren war die Hamas noch auf Ingenieure aus dem Iran und andern Orten angewiesen, heute können die Terroristen im Gazastreifen eigene Raketen und Drohnen entwickeln. Das machen sie tagein tagaus. Sie können nichts anderes.
Und wer finanziert das?
Es fliesst viel Geld aus Katar und aus dem Iran, das der Hamas und dem islamischen Dschihad zugutekommt. Auch von den Beiträgen für die Palästinenserhilfe aus Europa fliesst ein Teil in die Taschen der Terroristen und an die Terror-Infrastruktur.
Was erwarten Sie vom Iran? Bleibt es bei Waffenlieferungen an die Hamas, oder wird das Land selber in den Krieg eingreifen?
Ich hoffe, dass das Mullah-Regime und die Hisbollah die Warnungen aus Israel wahrnehmen und nicht auf den Terrorzug der Hamas aufspringen, sondern die Waffen stillhalten werden. Es liegt in ihrem eigenen Interesse.
Wird die israelische Armee durch Soldaten aus dem Ausland unterstützt?
In keinem Krieg haben ausländische Legionäre an der Seite der israelischen Armee gekämpft. Das wird auch nie vorkommen, weil Israel diese Konflikte alleine lösen will.
Mit welchen Anschlägen in Israel rechnen Sie noch?
Die Hamas-Propaganda versucht, die in Israel lebenden muslimischen Araber anzustacheln, damit sie Terror machen. Es ist gut möglich, dass es hier oder da noch brennen wird. Wir werden die Augen offen halten und vorbereitet sein.
Was kann oder soll die Schweiz machen?
Das eine ist die Solidarität. Es tut gut zu wissen, dass demokratische westliche Staaten und deren Politik und Bevölkerung uns zur Seite stehen. Das andere ist, dass man sicherstellt, dass kein einziger Franken mehr in die Taschen der Terroristen gelangt. Wie sonst könnte eine Terrororganisation auf einem relativ überschaubaren Gebiet ein so grosses Tunnelsystem graben und Raketen bauen, die sie bis nach Tel Aviv und Jerusalem abfeuern können?
Wann wird sich die Situation wieder beruhigen?
Es kann noch Wochen, wenn nicht Monate dauern. Es stehen uns keine einfachen Tage bevor.