Auf einen Blick
- Iran greift Israel direkt an, es droht die grosse Eskalation
- Der Libanon ist isoliert, die Bevölkerung in einem Albtraum gefangen
- Selbst wenn der Krieg endet, gehen die Machtkämpfe weiter
Am 7. Oktober vor einem Jahr überfielen Kämpfer der Hamas – massenhaft und brutal wie nie – israelische Siedlungen und ein Open-Air-Festival. Die Attacke der palästinensischen Terrormiliz stellte die Weichen für eine neue Ära im Nahen Osten.
Wie dramatisch die Umwälzungen sind, wird nun deutlicher denn je. Am Dienstag griff die Islamische Republik Iran ihren «Erzfeind» direkt an. In den Nachtstunden liess das Mullah-Regime 181 Raketen auf Israel abfeuern. Im Gegenzug könnten Irans Atomanlagen und die Öl-Industrie zum Ziel werden. Gleichzeitig verstärkte Israels Armee massiv ihre Angriffe auf den wichtigsten Verbündeten des Regimes in Teheran: die Hisbollah.
Dem Iran ebenso treu ergeben wie die sunnitische Hamas im südwestlichen Gazastreifen attackiert die schiitische Miliz vom Libanon aus den Norden des Judenstaats. Der Raketenhagel führte dazu, dass knapp 100’000 Israelis aus der Grenzregion evakuiert werden mussten. Parallel nahmen weitere regionale Terrorgruppen, die dem Kommando des Irans folgen, Israel unter Beschuss: schiitische Milizen aus dem Irak und die Huthi im Jemen, die zusätzlich die Schifffahrtsrouten am Roten Meer attackierten.
Entscheidende Eskalationsstufe
Der Mehrfrontenkrieg von Israels Premier Benjamin Netanyahu (74) bahnte sich lange an, inzwischen ist eine entscheidende Eskalationsstufe erreicht: Am 27. September wurde der religiöse Anführer der Hisbollah Hassan Nasrallah (†64) mit einem gewaltigen Bombenangriff von Israels Armee in seinem Bunker in Beirut getötet. Es war der Auftakt eines Luftkrieges gegen Ziele der Hisbollah, mit bis zu tausend Angriffen täglich. Mehr als 2000 Menschen im Libanon sind bereits umgekommen, eine Million auf der Flucht. 300’000 waren so verzweifelt, dass sie im Bürgerkriegsland Syrien Schutz suchten. Seit Freitag gibt es diesen Ausweg nicht mehr: Ein Bombentreffer Israels machte den zentralen Grenzübergang unpassierbar. Angriffe unweit des internationalen Flughafens Beiruts bedeuten, dass der Libanon nun faktisch isoliert ist.
Petra Ramsauer (55) studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien. Sie berichtete als Kriegsreporterin für namhafte Medien aus dem Nahen Osten und veröffentlichte zahlreiche Bücher, etwa über den Islamischen Staat oder die arabischen Revolutionen. In ihrem neuesten Werk «Nahost verstehen. Wie eine Region die Welt in Atem hält» (Verlag edition a, Wien 2024) erklärt sie die Hintergründe der aktuellen Konflikte und gibt Einblicke in die Machtkonstellationen vom Iran über die Golfregion bis Israel. Ramsauer ist mit dem ehemaligen österreichischen Gesundheitsminister Rudolf Anschober liiert.
Petra Ramsauer (55) studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien. Sie berichtete als Kriegsreporterin für namhafte Medien aus dem Nahen Osten und veröffentlichte zahlreiche Bücher, etwa über den Islamischen Staat oder die arabischen Revolutionen. In ihrem neuesten Werk «Nahost verstehen. Wie eine Region die Welt in Atem hält» (Verlag edition a, Wien 2024) erklärt sie die Hintergründe der aktuellen Konflikte und gibt Einblicke in die Machtkonstellationen vom Iran über die Golfregion bis Israel. Ramsauer ist mit dem ehemaligen österreichischen Gesundheitsminister Rudolf Anschober liiert.
Die 5,5 Millionen Einwohner sind somit im nächsten Albtraum gefangen. Der eskalierende Konflikt droht das von Krisen geschüttelte Land endgültig in den Abgrund zu reissen. Die Wirtschaftskrise von 2019 – eine der gravierendsten in der modernen Geschichte – hat zwei Drittel der Bevölkerung in Armut gestürzt, die Ersparnisse von Hunderttausenden vernichtet.
Im August 2020 erschütterte eine Explosion von nachlässig gelagerten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen Beiruts die Hauptstadt: 216 Menschen verloren ihr Leben, weite Teile der Innenstadt wurden zerstört. Viele der Schäden sind noch immer nicht repariert, die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen: Indizien der tiefen, chronischen Krise des politischen Systems.
Konfessionsteppich
Libanons Parlamentsabgeordneten gelingt es seit Oktober 2022 nicht, einen neuen Präsidenten zu küren. Auch die Regierungsbildung liegt auf Eis; der Libanon wird von einem Übergangspremier namens Nadschib Mikati (68) verwaltet.
Einfach war es hier nie: Die Bevölkerung ist in 18 Konfessionen aus drei Blöcken zersplittert: Christen, Sunniten und Schiiten. Die letzte Volkszählung datiert aus dem Jahr 1932. Niemand wagte inzwischen nachzuzählen, denn die ohnehin fragile Ordnung beruht letztlich auf einem Proporzsystem – und dessen Basis sind längst überholte Schätzungen über die Grösse dieser Gruppen.
Als Präsident ist ein Christ vorgesehen, der Premierminister sollte ein Sunnit sein, der Parlamentssprecher Schiit. Statt zu einem fairen Miteinander führte dieses System aber zu Postenschacher und Korruption, die Formationen des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 wurden in einer Art «Mafiokratie» verewigt. Aus den Milizen-Chefs wurden Milliardäre, die sich die Gewinne aus dem Wiederaufbau zuschanzten und Regierungsposten als Freibrief zur Selbstbedienung verstanden.
Mehrheit lehnt Hisbollah ab
Auch weil sie finanziell unabhängig war, erstarkte in diesem Biotop die Hisbollah. Die 1982 mit Unterstützung Irans gegründete Miliz erhielt jährlich umgerechnet knapp 500 Millionen Franken aus Teheran. So wurde die «Partei Gottes» zur schlagkräftigsten nicht staatlichen Gruppe der Welt, besser ausgerüstet als die staatliche Armee des Libanons. Ein Arsenal von 150’000 Raketen wurde aufgebaut, eine Terrorarmee von 50’000 hervorragend trainierten Kämpfern. Parallel spielte der politische Flügel der Hisbollah eine immer bedeutendere Rolle. Die Gruppe stellt Minister und Parlamentsabgeordnete und galt bei der Kür des Präsidenten bislang als Königsmacherin. Politische Widersacher wurden kaltblütig ermordet, darunter auch Premier Rafik Hariri im Jahr 2005.
Krieg im Nahen Osten
Die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung lehnt die Hisbollah zutiefst ab. Doch bislang war niemand stark genug, ihr die Stirn zu bieten. Israels Offensive wird die Schiiten-Armee zwar nachhaltig schwächen, doch das dürfte weder den Libanon stabilisieren noch Israels Sicherheit garantieren. Die Stärke der Hisbollah ist vor allem ein Resultat des Scheiterns der politischen Elite. Daran ändert der Krieg nichts. Deshalb gilt für den Libanon die gleiche Formel wie für den Gazastreifen: Ohne eine tragfähige politische Lösung für den Tag nach dem Krieg ist jeder militärische Erfolg nur ein kurzer Moment des Triumphes.
Gigantischer Kraftakt
Die Machtkämpfe der Nachkriegszeit im Nahen Osten könnten damit zum Keim der nächsten Krise werden. Die Ära nach dem 7. Oktober 2023 braucht deshalb vor allem eines: eine diplomatische Lösung für die Konflikte in dieser explosiven Region – ein gigantischer Kraftakt, der die Weichen für ein wirklich neues Zeitalter zu stellen vermag.