Es herrschen unruhige Zeiten in Israel. Zehntausende Menschen sind am Samstag in mehreren Städten auf die Strasse gegangen. In der Küstenmetropole Tel Aviv kam es den neunten Samstagabend in Folge zu einer Grosskundgebung, nach Medienberichten nahmen daran rund 160 000 Demonstranten teil. Auch in anderen Städten wie Haifa und Netanja kam es zu Protesten.
Grund für den Wut in Teilen der Bevölkerung: Die geplanten Justizreformen der neuen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (73). Die Regierung setzt sich zur Hälfte aus Netanyahus rechter Likud-Partei und zur Hälfte aus dem rechtsextremen religiös-zionistischen Bündnis und zwei streng religiösen Parteien zusammen.
Derweil spitzt sich auch die Situation zwischen Palästinensern und israelischen Siedlern zu. In der palästinensischen Ortschaft Nablus hat am Sonntag ein mutmasslich palästinensischer Schütze zwei Israelis getötet. Danach randalierten israelische Siedler in der palästinensischen Stadt Hawara im Norden des Westjordanlands und zündeten Häuser und Autos an.
Die israelische Regierung sorgte dabei nicht für Deeskalation, sondern schien die israelischen Siedler zu Ausschreitungen zu ermuntern. Ein Mitglied der rechts-religiösen Regierungskoalition, Zvika Fogel, lobte: Die Randale werde dazu beitragen, palästinensische Anschläge zu verhindern, sagte er im Militärradio. «Ich sehe das Ergebnis in einem sehr guten Licht.» Netanyahu selbst rief lediglich zur Ruhe auf.
«Die Entwicklungen sind ziemlich dramatisch. Es brennt an allen Fronten», fasst Peter Lintl, Israel-Experte bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, die Situation zusammen. Diese erneute Eskalation komme aber nicht von ungefähr, so der Experte.
Rechtsradikale Regierung will Gerichtshof aushebeln
Denn Netanyahu hat die rechtsradikalste Regierung der Geschichte Israels zusammengestellt. Diese träumt davon, die Macht des Obersten Gerichtshofs mittels der Justizreformen komplett auszuhebeln. Somit läge alle Macht bei der Knesset, dem israelischen Parlament. Das Oberste Gericht Israels ist der aktuellen Regierung zu progressiv.
Die geplanten Justizreformen haben zu einem Aufstand der israelischen Bevölkerung geführt. 160'000 Menschen gingen am vergangenen Wochenende auf die Strasse. Judith Poppe, eine deutsche Journalistin, die seit Jahren in Tel Aviv lebt, erzählt im Gespräch mit Blick: «Die Stimmung ist wahnsinnig aufgeheizt. Die Menschen haben Angst.»
Angst davor, in ihrem eigenen Land nicht mehr sicher zu sein, die Konsequenzen für etwas tragen zu müssen, für das sie nichts können. Angst davor, dass Israels Demokratie an der Regierung Netanyahus zerbrechen wird. Auch Poppe bekräftigt: «Wenn es so weitergeht, wird es zu einer illiberalen Demokratie kommen. Privilegierte Personen werden zunächst wenig von diesen Reformen betroffen sein, Minderheiten – Palästinenser, Geflüchtete, LGBTQ-Personen – hingegen, werden es als Erstes zu spüren bekommen», ist sie sich sicher.
SWP-Experte Lintl stimmt zu. Die Regierung weise immer autoritärere Züge auf. Doch: «Die gegenwärtigen Proteste zeigen deutlich, dass viele Israelis damit nicht einverstanden sind.»
Nicht nur die israelische Bevölkerung, auch Palästinenser innerhalb und ausserhalb Israels fürchten sich. Das Problem sei, dass sich die israelischen Siedler von der Regierung unterstützt fühlen. Denn es ist die Regierung, die eine Zweistaatenlösung ablehnt.
Bereits im November 2022 warnten die Vereinten Nationen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt «erneut einen Siedepunkt» erreichen werde. Dieser Punkt scheint nun erreicht. «Die gegenwärtige Situation ist auswegloser denn je, da derzeit eine Perspektive auf Verhandlungen vollkommen fehlt. Daher stehen die Zeichen derzeit auf eine massive Gewalteskalation», so Lintl. Manche sprechen sogar von einer neuen Intifada. Bei der zweiten Intifada (2000–2005) kamen über 4000 Israelis und Palästinenser ums Leben.