Der Ukraine-Airlines-Flug PS752 am Mittwochmorgen ist kurz und tragisch. Um 6.12 Uhr MEZ hebt der Linienflieger am Flughafen Teheran Imam Khomeini ab. Eine Minute nach dem Start wird die Boeing 737 von einer Abfangrakete getroffen, die Flugsicherung verliert das Signal.
Um 6.17 Uhr stürzt das Flugzeug ab, alle 176 Insassen sterben. Darunter zahlreiche iranische Akademiker wie der ETH-Doktorand Ali D.* (†28) und seine Frau Geza F.* (†24).
Obwohl die Beweise erdrückend sind, räumt die iranische Armee den Abschuss erst drei Tage später zähneknirschend ein: Die Maschine sei für ein «feindliches Flugzeug» gehalten worden. Es handle sich um «menschliches Versagen», schreibt der iranische Präsident Hassan Rohani auf Twitter. Die iranischen Revolutionsgarden machen einen Defekt im militärischen Kommunikationssystem verantwortlich.
Der Tod von 176 Menschen: eine riesige Panne. Ein Kollateralschaden im schwelenden Konflikt mit den USA.
Das iranische Schuldeingeständnis ist der Wendepunkt in der Lesart der drohenden Eskalation.
Plötzlich steht Trump gut da
Für die Mullahs ist die Angelegenheit äusserst peinlich. Der iranische Luftwaffenchef Amir Ali Hajizadeh äussert in einer Videobotschaft gar: «Ich wünschte, ich wäre tot.»
Die Ukraine und Kanada, die besonders viele Tote zu beklagen haben, kochen. Und ausgerechnet Donald Trump (73) steht plötzlich gut da. Wie am Wochenende bekannt wurde, hatte Washington mit Schweizer Hilfe gleich nach der gezielten Tötung von General Qassem Soleimani (62) um Deeskalation ersucht. Über die Schweizer Botschaft in Teheran ging eine verschlüsselte Nachricht an die Iraner.
Seit der Eliminierung Soleimanis gibt sich Washington vergleichsweise milde. Schlug nicht mal zurück, als die rachsüchtigen iranischen Revolutionsgarden in der Nacht auf Mittwoch den US-Luftwaffenstützpunkt Ain al-Asad mit 35 Raketen in Grund und Boden bombten.
«Der Iran hatte natürlich mit einer amerikanischen Gegenreaktion gerechnet», erklärt Islamwissenschaftler Urs Gösken von der Uni Bern den versehentlichen Abschuss der Passagiermaschine. Die Krux: «Nun sind dem gross angekündigten Racheakt keine Amis zum Opfer gefallen, sondern die eigenen Leute.»
Panikreaktion schwächt die Mullahs
Der fatale Abschuss birgt ein enormes innenpolitisches Risiko für das iranische Regime, das wegen der US-Sanktionen ökonomisch unter Druck steht. Nach monatelangen Protesten wegen der gestiegenen Benzinpreise schien das Land erst im Hass gegen die USA wieder vereint. Nach dem Schuldeingeständnis gingen am Samstag Tausende Menschen in Teheran gegen die iranische Führung auf die Strasse. Die ARD-Korrespondentin Natalie Amiri in Teheran berichtet, es handle sich um die Mittelschicht und Studenten.
Die offensichtliche Panikreaktion bringt den Iran zudem international in die Bredouille. Weder mit dem an die USA grenzenden Kanada, wo Hunderttausende Iraner leben, noch mit der EU-nahen Ukraine will es sich das Regime verscherzen. Entsprechend schnell wurden ausländische Experten, die den Unfall untersuchen sollen, ins Land gelassen.
Der frühere Schweizer Botschafter in Teheran, Philippe Welti, lobt die Reaktion der Iraner. «Das Land hat von Anfang an Bereitschaft zur Transparenz erklärt. Aus meiner Sicht ist das ein erstaunlich rasches Zugeständnis – da gibt es ganz andere Beispiele, bei denen ein Abschuss erst Monate später oder gar nicht zugegeben wird.»
Wie lebt man mit der Schuld?
Der versehentliche Abschuss sei psychologisch nicht verwunderlich. «Dieses Land wurde regelmässig bedroht durch die Amerikaner und die Israelis. Seit Jahren leben die Iraner in dem Bewusstsein, dass sie jederzeit bombardiert werden könnten.»
Jetzt geht es um die Frage, wie die Iraner mit der Schuld leben werden. Vielleicht könnten sie ausgerechnet vom Erzfeind lernen: Die USA übernahmen 1988 die volle Verantwortung für einen Abschuss mit 290 Toten im Persischen Golf. Noch heute zahlen die Amerikaner Entschädigungen an die Hinterbliebenen im Iran.
* Namen bekannt