Invasion verläuft holprig
Das sind Putins militärische Fehler im Ukraine-Krieg

Russland wollte bei der Ukraine-Invasion aufs Ganze gehen, erreicht wurde dieses Ziel bislang nicht. Trotz grosser Schäden im Nachbarstaat scheint der Angriff nicht nach Plan zu laufen. Militärexperten finden eine Vielzahl von strategischen Fehlern, die dies erklären.
Publiziert: 05.03.2022 um 19:50 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 06:17 Uhr
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Die russische Invasion der Ukraine läuft nicht nach Putins Plan.
Foto: imago images/SNA
Chiara Schlenz

Vor zehn Tagen marschierte das Militär des russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) in die Ukraine ein. In Echtzeit konnte die Welt mitverfolgen, wie eine ukrainische Stadt nach der anderen attackiert wurde. Experten der Nato waren sich sicher: Putin setzt auf einen klassischen Angriff und setzt zuerst wichtige Radarstationen, Flugabwehrsysteme und Luftwaffenstützpunkte der Defensive ausser Kraft.

Zuerst verlief der Angriff, aus Russlands Sicht, auch wie aus dem Militär-Bilderbuch. Doch dann, so schreibt unter anderem «Spiegel», begingen die russischen Befehlshaber einen schweren Fehler: Sie schickten Bodentruppen ins Land – kaum geschützt und in viel zu kleinen Einheiten. Und die Luftwaffe bleibt vorerst beinahe komplett aus.

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Experten erkennen «strategische Torheit» Putins

Es ist nur einer von vielen Fehlern, die das russische Militär begangen hat, schätzen Experten. So glaubt der britische Militärexperte Justin Bronk vom Royal United Services Institute (Rusi), die russischen Streitkräfte hätten keinen so ernsthaften Widerstand von ukrainischer Seite erwartet. Wie er gegenüber der Zeitung erklärt, seien die Truppen offenbar angewiesen worden, schnell vorzurücken und die wichtigsten Städte einzukreisen – anstatt den Vormarsch in grossen, formierten Einheiten zu vollziehen, wie es die russische Doktrin normalerweise vorsehe.

«Sie dachten, sie müssten die Städte nicht einnehmen, sie könnten einfach hineinspazieren und ein System der Unterdrückung aufbauen, das von Ukrainern angeführt wird», sagt Bronk. So sollen die Russen auch detaillierte «Exekutionslisten vorbereitet haben, um Schlüsselpersonen gezielt zu ermorden. So sollte der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung möglichst schnell gebrochen werden. Ein Häuserkampf in ukrainischen Städten, glauben viele Experten, sei nicht Teil des Plans gewesen.

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Ein weiterer Fauxpas des russischen Militärs soll die «strategische Torheit» gewesen sein: Der russische Feldzug gegen die Ukraine sei «von Beginn an von politischen Zielen geleitet worden», schreibt der britische Militärhistoriker Lawrence Freedman. «Diese zugrundeliegende strategische Torheit wurde durch die taktische Ungeschicktkeit, mit der der Feldzug geführt wurde, noch verstärkt». Zudem soll die Militärführung ihre Männer am Boden offenbar lange Zeit über die Pläne im Dunkeln gelassen haben. Ein «eklatanter Mangel an Koordination» zwischen den einzelnen Teilen der Streitkräfte erschwerte den Vormarsch in der Ukraine zusätzlich. Wie westliche Geheimdienste berichteten, mussten russische Kommandeure gar auf handelsübliche Handys zurückgreifen, um mit ihren Truppen zu kommunizieren.

Luftwaffe kam zu spät zum Einsatz

«Die strategischen Fehler sind absolut wahnsinnig», sagt John Spencer vom Urban Warfare Studies Department an der U.S. Military Academy in West Point zum «Spiegel». «Die Russen zeigen nicht das Militär einer Supermacht, sie haben erstaunliche Schwächen.» Denn die leicht bewaffneten Einheiten wurden tief in feindliches Gebiet geschickt – während der ersten Kriegswoche beinahe gänzlich ohne Unterstützung der Luftwaffe. Experten gehen davon aus, dass dies an einem Mangel an präzisionsgelenkter Munition liegt, aber auch daran, dass viele russische Piloten nicht gut genug ausgebildet sind.

Putin passte seine Strategie zu Beginn dieser Woche an. Es fliegen nun mehr Raketen, mehr Granaten, die russischen Streitkräfte sind dabei, die grossen Bevölkerungszentren zu umzingeln. Die ukrainische Stadt Charkiw beispielsweise sieht sich seit Montag dauerhaftem Raketen- und Artilleriebeschuss ausgesetzt. Auch die Luftwaffe greift inzwischen öfter ein.

Russische Soldaten sind hungrig und unvorbereitet

Doch nach wie vor häufen sich die Probleme des russischen Militärs. Die ukrainische Offensive greift die russischen Nachschubwege an, Benzin, Diesel und die Verpflegung der Soldaten gelangen nicht oder nur ungenügend an ihr ursprüngliches Ziel. Schätzungen zufolge sind rund 70 Prozent der russischen Truppen also nicht ausreichend versorgt. Soldaten klagen über Hunger und Kälte. Zudem soll ein Grossteil der Streitkräfte bis zum Beginn der Invasion gar nicht gewusst haben, dass sie in den Krieg geschickt werden. Viele dachten, es würde sich lediglich um militärische Übungen handeln.

Der Sicherheitsberater Andreas Jödecke schätzt in der Zeitung die Moral der russischen Armee ein. «Der Zeitpunkt der höchsten Einsatzbereitschaft war überschritten, als der Krieg begann. Irgendwann sind die Soldaten erschöpft, sie wollen mal wieder duschen, ins Bett und essen. Wenn es aber stattdessen in einen Krieg mit ungewissem Ausgang geht, treten Erschöpfung und Frustration ein». Zudem sei das junge Alter der Soldaten ein Problem, denn: «Die wissen im Zeitalter von Smartphones auch sehr wohl, dass sie nicht wie die Rote Armee 1941 die Heimat gegen einen Einmarsch verteidigen, sondern dass sie Aggressoren sind, die ein Land überfallen. Das hilft der Moral nicht.»

Laut Historiker Freedman muss Putin trotz Frust über die allgemein holprige Invasion aber trotzdem davon absehen, noch härter gegen die Ukraine vorzugehen. Sonst sei ein Regimewechsel in Moskau «ebenso wahrscheinlich wie in Kiew».

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