Nach einer Woche Krieg scheinen folgende Punkte klar zu sein:
- Die Ukraine einzunehmen ist viel schwieriger, als die Russen dachten
- Die Ukraine ist strategisch unterlegen, taktisch aber überlegen
- Die Nato wird nicht aktiv eingreifen, um keinen Nuklearkrieg zu provozieren
- Russland hat ganz wenig Verbündete, nicht einmal China heisst den Krieg gut
Was aber bedeuten diese vorläufigen Ergebnisse für die Fortsetzung des Konflikts? Blick konfrontiert Marcel Berni (33) mit den Szenarien, die von Experten derzeit für am Wahrscheinlichsten gehalten werden. Der Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich schätzt deren Folgen ein und sagt, wie realistisch sie sind.
Szenario 1: Putins Wunschvorstellung
Die westliche Rückendeckung der Ukraine bricht ein. Eine rasche Eroberung von Kiew ist die Folge. Die Nord- und Nordostfront der russischen Armee werden vereint und im Süden kommt Putin weiter schnell voran. Wolodimir Selenski wird vertrieben oder ermordet.
Moskau installiert eine Marionetten-Regierung. Danach beginnt die Besatzung des Landes und es gelingt Putin, die Bevölkerung zu Hause und in der Ukraine von seinen Machtansprüchen zu überzeugen. Anschliessend greift er die Westukraine an, aus einer gefestigten Basis im östlichen Dnjeprgebiet.
Die Folge: «Ein neuer Eiserner Vorhang», sagt Berni zu Blick. «Dieser bildet sich entlang der Grenzen der baltischen Staaten sowie Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien im Süden. Die Nato-Mächte würden zwar sich gegen Moskau verbünden, zeigten aber Hemmungen, gegen die russische Aggression vorzugehen. Ein zweiter Kalter Krieg setzt ein mit grosser Unsicherheit und Aufrüstung auf beiden Seiten.»
Bernis Einschätzung: Dieses Szenario ist wahrscheinlich
Szenario 2: Putins Eskalation
Im Norden kommt der Russen-Konvoi weiterhin nicht voran. Die Soldaten werden aus den grossen Städten zurückgedrängt, die furchteinflössenden Tschetschenen machen niemandem Angst und Selenski entwischt immer wieder.
Putin sieht keinen anderen Weg mehr, als maximale Zerstörung zu erreichen und die Zivilbevölkerung systematisch einzuschüchtern. Bomben werden über Wohngebieten abgeworfen, anschliessend überrennt die überlegene russische Streitmacht den dezimierten Gegner und beansprucht die Ukraine für sich. Falls sich Putin völlig in die Enge getrieben fühlt, zieht er den Abwurf einer taktischen Atombombe über Lwiw oder Kiew in Betracht. Der Westen blockiert jegliche Gas- und Öllieferungen Russlands.
Die Folge: «Es kommt zu riesigen Verlusten in der Zivilbevölkerung. Die Bilder von Fliegern, die Bomben abwerfen, gleichen denen aus dem Zweiten Weltkrieg», erklärt der ETH-Experte. «Putin hat zwar gewonnen, aber einen Pyrrhus-Sieg errungen. Das Land ist zerstört, die Bevölkerung entweder geflüchtet oder gegen ihn.»
Der Rückhalt im eigenen Land sinke auf ein Minimum, weil Putin die Bilder eines solchen Krieges nicht vor der Bevölkerung geheim halten könne, von denen viele die Ukrainer als ihre Brüder und Schwestern ansehen. «Wie lange er die Ukraine halten kann und ob die Nato irgendwann eingreift, ist völlig unklar.»
Bernis Einschätzung: Dieses Szenario ist eher unwahrscheinlich
Szenario 3: Blutiger Stellungskrieg
Beide Seiten machen auf dem Schlachtfeld kaum Fortschritte. Putin sieht trotzdem davon ab, noch schwereres Geschütz aufzufahren, weil er eine möglichst intakte Ukraine übernehmen will. Deren Grossstädte bleiben für unbestimmte Zeit umkämpft, auch, weil der Westen die Ukraine weiter mit Waffen und anderen Ressourcen versorgt. Millionen Ukrainer flüchten. Es gelingt Putin nicht, die Ukraine von der Versorgung westlicher Lieferungen abzuschneiden.
Die Folge: «Es kommt zum blutigen, langen Abnützungskrieg mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Die Ukraine wird ein zweites Afghanistan, mit ständigen Kämpfen zwischen pro-russischen Besatzern und den Ukrainern.»
Bernis Einschätzung: Dieses Szenario ist sehr wahrscheinlich
Szenario 4: Putsch gegen Putin
Die westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Putin weiten sich aus. Die Opposition in Russland wird immer grösser. Der Westen verspricht, die Sanktionen abzuschwächen, sollte eine gemässigtere Führung in den Kreml einziehen. Es kommt zum Putsch – blutig, oder gewaltfrei. Putin wird entmachtet und eine neue (Militär)-Führung installiert.
Die Folge: «Die neue russische Regierung will schnell Frieden schliessen, um die eigene Macht zu konsolidieren. Alle russischen Truppen ziehen sich zurück und die Ukraine kann Vorbereitungen treffen, um der NATO und EU beizutreten. Russland konzentriert sich die nächsten Jahre darauf, die innenpolitischen Probleme zu lösen.»
Bernis Einschätzung: Dieses Szenario ist eher unwahrscheinlich
Szenario 5: Friedensvertrag
Der Krieg dauert an, ohne dass eine Seite einen raschen, eindeutigen Sieg erringen kann. Die Verluste werden so gross, dass sich Ukrainer und Russen nach unzähligen Gesprächen auf eine diplomatische Lösung einigen.
Wie diese aussieht, ist ungewiss. Eine Möglichkeit: Russland zieht seine Soldaten zurück, dafür erhält die Donbas-Region ihre Autonomie. Somit hätte Putin erreicht, was er vor dem Krieg versprach. Sicher ist: Was auch immer ein Vertrag beinhaltet, es müssten Zugeständnisse auf beiden Seiten gemacht werden.
Die Folge: «Die europäische Landkarte sieht nicht mehr so aus wie vor dem Krieg. Auch die geopolitische Situation bleibt angespannt, da die ganze Welt weiss, wie unberechenbar Putin ist und wie wenig Verträge wert sein können.»
Bernis Einschätzung: Dieses Szenario ist eher unwahrscheinlich
Auch wenn die Post-Ukraine-Krieg-Weltordnung Stand heute am ehesten aus einem dieser Szenarien hervorgehen wird: Ein Krieg ist ein dynamischer Prozess mit unendlich vielen unbekannten Faktoren. Nicht einmal Wladimir Putin kann sagen, wie er ausgehen wird.