Die Kriege in Afghanistan, Syrien und Libyen haben dazu geführt, dass zwischen 2015 und 2016 Hunderttausende Flüchtlinge Schutz in Europa suchten. In der Schweiz wurden 2015 laut dem Staatssekretariat für Migration total 39'523 Asylgesuche gestellt. Im folgenden Jahr waren es nochmals 27'207. Nun wurden aufgrund des Vormarschs der Taliban laut Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) seit Jahresbeginn rund 550'000 Afghanen aus ihren Häusern vertrieben. Mehr als 390'000 befinden sich allein seit Mai auf der Flucht, darunter viele Frauen und Kinder.
Kommt es erneut zu einer Flüchtlingswelle in Europa? SP und Grüne in der Schweiz fordern die Aufnahme von 10'000 afghanische Flüchtlingen. Die Junge SVP will, dass gemäss dem «Verursacherprinzip» die USA für Asylgesuche von Afghanen in der Schweiz zuständig sein soll. Der Bundesrat möge dazu unverzüglich Verhandlungen mit den USA aufnehmen. In Deutschland lehnt CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet (60) eine Zusage für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge ab.
Praktisch keine Flüge mehr
Für Flüchtlinge sieht die Situation heute noch prekärer aus als 2015. Sie sind nämlich praktisch in Afghanistan eingesperrt: Die Taliban kontrollieren bereits fast alle Grenzübergänge. Wer Afghanistan verlassen will, muss über das Nadelöhr am internationalen Flughafen in Kabul. Doch Flüge werden dort praktisch keine mehr durchgeführt. Kommt es trotzdem zu einem Start, gibt es chaotische Szenen und Tote.
Der Iran hat angesichts des Eroberungszugs der Taliban Pufferzonen für Flüchtlinge aus dem Nachbarland eingerichtet. Sie sollen den Menschen vorübergehend Schutz bieten. Es wird seitens der iranischen Regierung jedoch erwartet, dass die Flüchtlinge wieder zurückkehren, sobald sich die Situation entspannt hat.
Die meisten bleiben im Iran oder in Pakistan
«Die Erzählung von einer grossen Flüchtlingsbewegung nach Europa hat mit der Realität nicht viel zu tun», sagt Shabia Mantoo, Sprecherin des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. «Seit Jahrzehnten sind Menschen wegen des Krieges und der andauernden Unsicherheit aus Afghanistan geflohen. Diese Flüchtlinge sind bisher zu 90 Prozent im Iran und in Pakistan geblieben und werden dort untergebracht.» Aus Mantoos Sicht spricht nicht viel dafür, dass sich das nun ändert.
2015 waren die Grenzen für Menschen auf der Flucht weitgehend offen. Flüchtlinge konnten über die Türkei und den Balkan bis nach Westeuropa reisen. Heute stehen überall Mauern und Zäune – die ehemaligen Fluchtrouten sind grösstenteils geschlossen.
Türkei und Europa schotten sich ab
Wer als afghanischer Flüchtling auf dem Landweg nach Europa will, muss über den Iran in die Türkei gelangen. Das ist viel schwieriger als noch vor Jahren. Denn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (67) lässt an der Grenze zum Iran eine Mauer bauen. Auch die Grenze zu Syrien ist zugemauert.
Die EU schottet sich ebenfalls ab. Am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros baut die griechische Regierung eine Stahlmauer. Afghanische Flüchtlinge werden systematisch in die Türkei zurückgeschickt. Staaten entlang der sogenannten Balkan-Route wie Nordmazedonien und Ungarn haben ihre Grenzen mit Zäunen abgeriegelt.