Blick: Sind die USA bereit für eine Präsidentin Kamala Harris?
Dan Morain: Die Hälfte des Landes ist es, die andere Hälfte nicht. So einfach ist das bei uns: Wir sind ein geteiltes Land.
Andersherum gefragt: Ist Kamala Harris bereit für das Amt?
Kamala Harris war sechs Jahre lang Generalstaatsanwältin von Kalifornien, dann Senatorin und schliesslich Vizepräsidentin der USA. An ihrer Qualifikation ist also kaum zu zweifeln. Wäre sie auch eine gute Präsidentin? Das ist eine andere Frage.
Und? Wäre sie es?
Das kann man nicht im Voraus wissen. Sicher ist: Kamala Harris wird notorisch unterschätzt. Auch von Donald Trump. Das war schon früher so. Als sie vor vielen Jahren als Bezirksstaatsanwältin von San Francisco kandidierte, glaubte ihr Gegner, sie sei chancenlos. Als sie für das Amt als Generalstaatsanwältin von Kalifornien antrat, sah sich der Gegner ebenfalls schon als sicherer Sieger. Beide Male gewann sie.
Was ist ihr grösster Vorteil?
Donald Trump.
Das müssen Sie erklären.
Trump polarisiert in einem solchen Ausmass, dass die Hälfte des Landes nie für ihn stimmen würde – egal was Kamala Harris tut.
Ist sie also bloss eine Art Anti-Trump? Als Vizepräsidentin unter Joe Biden blieb sie nahezu unsichtbar. Keine gute Voraussetzung.
Liegt das nicht in der Natur der Sache? Vizepräsidenten stehen stets im Schatten. Ihr Job ist es, da zu sein, wenn der Präsident schwächelt, dessen treuester Unterstützer zu sein. Und ich glaube, das war sie für Biden. Sie war eine loyale Vizepräsidentin.
Jetzt muss sie selbst Profil zeigen. Kann sie das?
Ich traue es ihr zu. Kamala Harris ist eine hervorragende Wahlkämpferin. Eines der grossen Themen in den nächsten Monaten wird das Recht auf Abtreibung sein. Da kann sie mit ihrer liberalen Haltung punkten. Sie kann glaubhaft versichern, dass ihr die Frauenrechte am Herzen liegen. Wie gesagt: Harris wird unterschätzt.
Viele Wähler kennen Kamala Harris erst, seit sie Senatorin ist. Manche können nicht mal ihren Vornamen richtig aussprechen («Comma-la»). Sie selbst begleiten Harris seit 30 Jahren. Wie ist sie persönlich?
Sie ist eine kluge und charismatische Frau. Sie hat das Herz am richtigen Fleck. Ich glaube, sie hat viel Mitgefühl und kann sich in Menschen und ihre Probleme hineinversetzen.
Das klingt mehr nach Werbespot als nach der Realität.
Mag sein. Aber es ist so. Ich habe schon viele Politikerinnen und Politiker getroffen. Harris ist eine Ausnahmeerscheinung. Sie ist knallhart in der Sache und zugleich sehr charmant. Sie hat eine enorm einnehmende Art.
Dan Morain (68) ist ein US-amerikanischer Autor und berichtet seit mehr als vier Jahrzehnten über Politik und Justiz in Kalifornien. Er schrieb für die «Los Angeles Times» und die «Sacramento Bee» und begleitete Kamala Harris auf ihrem Weg zur mächtigsten Frau der USA. 2021 erschien sein Buch «Kamala Harris: Die Biografie» im Heyne-Verlag.
Dan Morain (68) ist ein US-amerikanischer Autor und berichtet seit mehr als vier Jahrzehnten über Politik und Justiz in Kalifornien. Er schrieb für die «Los Angeles Times» und die «Sacramento Bee» und begleitete Kamala Harris auf ihrem Weg zur mächtigsten Frau der USA. 2021 erschien sein Buch «Kamala Harris: Die Biografie» im Heyne-Verlag.
Die Eltern von Harris lernten sich während der 68er-Bewegung an der Universität Berkeley kennen. In Ihrer Biografie beschreiben Sie eine Szene aus dieser Zeit: Die Eltern nahmen ihre Tochter in einem Kinderwagen mit zu einer Demonstration. Sie machten sich einen Spass daraus, sich über die kleine Kamala zu beugen und sie zu fragen: «Was willst du?» Kamala – die zu diesem Zeitpunkt erst fünf oder sechs Worte sprechen konnte – antwortete: «Freiheit!» Welche Rolle spielte das Elternhaus für ihre Karriere als Politikerin?
Eine ausserordentlich grosse. Harris stammt aus einem liberalen, sehr erfolgreichen Elternhaus, das extrem leistungsorientiert war. Ihre Mutter war eine in Indien geborene Krebsforscherin, ihr Vater, ursprünglich aus Jamaika, ein Wirtschaftsprofessor. Noch heute spricht Kamala Harris ständig über ihre Mutter.
Nun bleiben ihr knapp 100 Tage bis zur Wahl am 5. November. Was würden Sie ihr jetzt raten?
Sie muss sie selber bleiben. Authentisch, sich nicht verstellen. Und sie darf sich keinen Fehler erlauben. Einfach wird das nicht. Der Start war immerhin schon einmal grossartig, sie hat die Demokratische Partei geschlossen hinter sich gebracht, viele Spenden gesammelt. Aber jetzt geht es erst richtig los.
Wagen Sie eine Prognose?
Wer glaubt, er könne die Wahl voraussagen, macht sich etwas vor. Kamala Harris kann es schaffen, davon bin ich überzeugt. Sie tritt aber als Aussenseiterin an. Wäre die Wahl heute, würde Trump mit ziemlicher Sicherheit gewinnen. Ich sage Ihnen: Es wird ein Höllenritt!