Plötzlich ist Donald Trump (78) der alte Mann im Raum. Vieles, was die Republikaner und sogar wohlwollende Demokraten Joe Biden (81) angehängt hatten, gilt jetzt für Trump selbst: Er ist der älteste Präsidentschaftskandidat der Geschichte. Verglichen mit der lauten Fröhlichkeit und Energie einer Kamala Harris (59), seiner wahrscheinlichen Gegnerin auf dem Weg ins Weisse Haus, wirkt der Mann aus Mar-a-Lago jetzt wie ein schwerfälliger, gelegentlich konfuser und über die Jugend geifernder Greis.
Die «Double Hater», die grosse Mehrheit des US-amerikanischen Volks, die es hassten, dass ihnen nur die Wahl zwischen zwei alten Männern bleiben sollte, haben nun eine neue Option. Die Demokraten schwimmen wie befreit auf einer Welle euphorischer Seligkeit. Weggewischt der lähmende Mehltau der Loyalität zu einem zwar liebenswerten und durchaus erfolgreichen Präsidenten, mit dem man aber in den Strudel einer gewaltigen Niederlage gerissen zu werden drohte.
Wenn es so etwas gäbe, dann läge die offizielle Kamala-Harris-Fanzone einen Spaziergang vom Weissen Haus entfernt am Dupont Circle, einem Wohngebiet im Zentrum von Washington. Menschen unterschiedlicher ethnischer und sexueller Identitäten leben hier in bunter Diversität, man ist stolz auf Liberalität und Toleranz. Harris gilt in diesem Milieu als Star und Hoffnungsträgerin, als eine, die für Minderheitenrechte einsteht und den Staat auch für Soziales in die Pflicht nehmen will. Im Winter hatten sie einen riesigen Strassen-Weihnachtsbaum mit Bildern vom Präsidenten und seiner Vizepräsidentin geschmückt. Bekennende Republikaner findet man hier kaum.
Auf dem Land ist Harris jemand anderes
Fährt man nur wenige Kilometer aus der Stadt heraus und lässt die wohlhabenden Vorstädte des Speckgürtels hinter sich, ändert sich das Bild – und mit ihm das Image von Kamala Harris. Man versteht plötzlich, weshalb ihre Umfragewerte nicht sonderlich berauschend sind. Auf dem Land ist sie jemand anderes, nämlich eine typische, liberale Kalifornierin. Sie mag mit Identitätspolitik die akademische Welt der Küstenhochschulen begeistern, doch vom wirklichen Leben und von den Sorgen der Menschen jenseits der urbanen Zentren hat sie keine Ahnung, wenn man den Leuten hier glaubt – oder, noch schlimmer: Sie interessiert sich gar nicht dafür.
Im Kernland prägt weiterhin die Panik vor dem nächsten Abstieg das Bewusstsein der arbeitenden Mittelschicht – eine Angst auf vielen Ebenen, ökonomisch wie sozial. Wenn die nächste Fabrik schliesst, verliert man vielleicht den gut bezahlten Job in der Produktion und endet, auf Trinkgelder angewiesen, im Service. Zudem, so sagen viele, haben die selbst ernannten Eliten in Politik, Medien und Wirtschaft respektlos alle Werte zerstört, die Amerika früher ausmachten: Selbstbestimmung, Religion, Familie. Sie würden verunglimpft als Hillbillys, also Hinterwäldler, manchmal als Rassisten, nur weil sie zum Beispiel auf der Überzeugung bestehen, dass das Geschlecht eines Menschen biologisch bestimmt ist. Donald Trump hat hier seine verlässliche Wählerbasis.
Auf Kamala Harris kommt nun die Aufgabe zu, die Unentschiedenen, die von Persönlichkeit und Stil des früheren Präsidenten Abgestossenen, auf ihre Seite und an die Wahlurnen zu bringen. Dazu braucht sie «Boots on the Ground», sie muss selbst da draussen hingehen, zuhören und die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Sie wird sich vorhalten lassen müssen, dass das Leben vom Supermarkteinkauf über Benzin, Arztbesuch bis hin zur Bildung für die Kinder unerschwinglich geworden sei und dass sie und Joe Biden das zugelassen hätten.
Hier erwartet man von der früheren Staatsanwältin nicht nur scharfe kritische Fragen, sondern nachvollziehbare Antworten, klare Ziele und Programme, wie es besser werden soll. Dabei war es noch nie ihr Ding, ein positives und mitreissendes Bild von der Zukunft zu malen. Zwei Drittel der Wahlberechtigten glauben heute, dass sich die Vereinigten Staaten in die falsche Richtung bewegen, dass eine drastische Veränderung notwendig sei. Diese Einschätzung teilen auch 40 Prozent der Demokraten. Jünger als ihr Konkurrent zu sein und die erste, nicht-weisse Frau auf diesem Weg ins Weisse Haus, reicht da nicht aus, um die Parole «Change» glaubhaft zu verkörpern.
Das Dilemma von Kamala Harris
Ein Blick nach Pennsylvania, einen der wichtigen Swing States, in denen wechselnde Mehrheiten entscheiden können, wer die Wahl im ganzen Land gewinnt. Dort zeigt sich ein Dilemma, mit dem Harris umzugehen haben wird. In Pennsylvania war man einst stolz auf die eigene Arbeit, die dem Staat Wohlstand brachte – durch Kohle, Stahl und Industrie. In den letzten Jahren ist der Wohlstand zurückgekehrt, weil das ökologisch umstrittene Fracking es möglich machte, reichlich vorhandenes Erdgas aus dem Boden zu holen.
In ihrer Präsidentschaftskampagne von 2019 aber wollte Harris das Fracking-Verfahren noch verbieten. Ihr späterer Chef, Präsident Joe Biden, schrieb sich zwar eine klimafreundliche Transformation auf die Fahne und förderte vor allem Investitionen in nicht-fossile Energiegewinnung. Das Fracking in Pennsylvania aber tolerierte er – und seine Vizepräsidentin ging mit. Trotzdem fallen ihr jetzt die Zitate aus dem letzten Wahlkampf auf die Füsse. Harris muss sich entscheiden, ob Pennsylvania auch unter ihrer Präsidentschaft vom Gas profitieren darf oder ob die Armut zurückkehrt.
Illegale Einwanderung als Knackpunkt
Argumentativ am schwersten wird es Kamala Harris fallen, überzeugende Antworten auf die zweite grosse nationale Sorge zu geben, die ausser Kontrolle geratene illegale Einwanderung über die mexikanische Grenze. Joe Biden hatte seiner Stellvertreterin gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Verantwortung für Einwanderungspolitik übertragen. Und sie scheiterte daran.
Es spielt keine Rolle, ob sie persönlich die Verantwortung dafür trägt, politisch ungeschickt handelte oder nur ein Opfer von Bidens Egozentrik geworden ist: Dass in ihrer Zeit die Zahl der illegalen Einwanderer alle bisher da gewesenen Dimensionen überschritt, ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb gehört es jetzt zur Wahlkampfstrategie von Donald Trump, den Namen Kamala Harris mit der «Invasion» gleichzusetzen, wie er es nennt.
Voraussichtlich Anfang August, noch vor dem Parteikonvent, werden die demokratischen Delegierten Kamala Harris in einer virtuellen Abstimmung nominieren und sie dann mit einer enthusiastischen «Convention» in den Wahlkampf schicken. Den urban-progressiven Teil der Partei deckt sie selbst gut ab. Für Afroamerikaner, Hispanics und andere ethnische Minderheiten ist sie ebenfalls attraktiv – auch wenn politisch nicht alle aus diesen Gruppen mit ihr übereinstimmen. Die arbeitende Mittelschicht ausserhalb der Metropolen, die sich abgehängt und vernachlässigt fühlt, erreicht sie jedoch nur schwer. Da braucht sie einen Vize, der wie damals Bill Clinton überzeugend sagen kann: «I feel your pain», ich fühle euren Schmerz.
Anfeindungen, Zweifel, Erschöpfung
Die Demokraten wirken nach Joe Bidens Verzicht auf die Kandidatur wie befreit. Doch Kamala Harris bleiben nur noch 100 Tage Wahlkampf. Das ist wenig, um ein klares Profil zu entwickeln und zu vermitteln, wer sie ist und wofür sie steht. Die knappe Zeitspanne ist aber auch lang, schmerzhaft und ermüdend. Es warten Zweifel, Erschöpfung und Anfeindungen.
Vor der letzten Wahl hatte sie gegen Joe Biden um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten gekämpft und war unterlegen: Nach einem furiosen Start dauerte es 2019 nicht einmal bis zum ersten Vorwahltermin in Iowa, bis sich ihr Wahlkampfteam mangels klarer Führung selbst zerlegte und sie finanziell ausgeblutet aufgab. Biden trat dann mit ihr als Stellvertreterin an.
Jetzt hat Kamala Harris die gesamte Professionalität der Parteiorganisation an ihrer Seite, um Donald Trump ein weiteres Mal vom Weissen Haus fernzuhalten.
* Arthur Landwehr (65) ist ein deutscher Journalist und USA-Experte. Bis 2022 berichtete er für die ARD als Korrespondent aus Washington. 2024 erschien sein Bestseller «Die zerrissenen Staaten von Amerika» im Droemer-Verlag.