Was für ein Auftakt! Am Montag, am Vorabend des Nato-Gipfels im litauischen Vilnius, erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (69), dass er den Nato-Beitritt Schwedens gutheissen werde. Und das nach über einem Jahr der Blockade. Hinter der Entscheidung steckt sehr viel Kalkül.
Laut Beobachtern kommt Erdogans Kehrtwende zu einem besonders günstigen Zeitpunkt für den türkischen Präsidenten. «Erdogan weiss, dass er den westlichen Partnern in Vilnius ein Maximum an Zugeständnissen abringen kann», so Asli Aydintasbas, Gastwissenschaftlerin am Brookings Institut in Washington, zu CNN. Ein osteuropäischer Diplomat erklärte dem Sender, dass er «den Moment nutzen wird, um jeden Tropfen aus dieser Situation herauszuquetschen». Denn der Beitritt Schwedens stand ganz oben auf der Bündnis-Agenda.
Die Türkei will in die EU
Es ist ein gelungener Schachzug Erdogans, sind sich Experten einig. Denn das türkische Ja zum schwedischen Weg in die Nato wurde an einige Forderungen geknüpft.
Eine davon: Es sei an der Zeit, den lange aufgeschobenen EU-Beitritt der Türkei voranzutreiben. «Die Türkei steht seit über 50 Jahren vor den Toren der Europäischen Union», sagte Erdogan, und «fast alle Nato-Mitgliedsländer sind europäische Mitgliedsländer». Doch dieses Vorhaben könnte sich als schwierig gestalten: Um ein neues Mitglied aufzunehmen, müssen alle 27 EU-Staaten zustimmen. Eine grosse Hürde – beispielsweise hält der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (64) nichts von der Idee.
Zwar ist der EU-Beitritt eine grosse, bei weitem aber nicht die einzige Forderung der Türkei. Zur Diskussion steht auch die Lieferung von 40 neuen F-16-Kampfjets durch die USA. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden (80) in einem Telefonat mit Erdogan Andeutungen gemacht, dass die USA den Kampfjet-Forderungen nachgeben würden – sofern die Türkei bei der Nato-Diskussion einknickt.
Für die Türkei geht es in erster Linie aber um ein schärferes Vorgehen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die in vielen Ländern als terroristische Vereinigung gilt. Schweden hat erst im Juni schärfere Gesetze eingeführt, um die Terror-Finanzierung zu bekämpfen.
Erdogan kann Zugeständnis zurückziehen
Erdogan hat seit schon früher erklärt, dass er grundsätzlich Nato-Erweiterungen befürwortet. Experten sind der Meinung: Die Türkei will eine grosse Nato. Denn so hat der türkische Präsident in einem der mächtigsten und grössten Bündnisse der Welt ein Mitspracherecht.
Bleibt die Frage: Hat Erdogan alles bekommen, was er will? Oder könnte er noch weitere Forderungen anknüpfen?
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Erdogans Ankündigung keine Zustimmung zu der Bewerbung war, sondern eine Absichtserklärung, die Frage der Zustimmung an das türkische Parlament weiterzuleiten. Somit behält er es sich vor, den Beitritt zu vereiteln oder zu verzögern, wenn Schweden bei der Terrorbekämpfung nachlässt oder wenn die USA den F-16-Vertrag nicht einhalten. Alles in allem hat er also kein wirkliches Druckmittel verloren, aber die Türkei in die bestmögliche Verhandlungsposition manövriert.