Auf einen Blick
- Experten zweifeln Selbstmord-Theorie des Germanwings-Absturzes an
- Untersuchungen deuten auf technischen Fehler hin
- Falsche Sitzordnung und Mikrofonverteilung im Cockpit werfen Fragen auf
- Über 17’000 Seiten deutsche Ermittlungsakten wurden analysiert
Als vor zehn Jahren der Airbus A320 der deutschen Airline Germanwings auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in einen Berg in Südfrankreich gerast war, waren die Ursache und der Schuldige schnell gefunden.
Innert 49 Stunden verkündete die französische Staatsanwaltschaft, dass der Co-Pilot Andreas Lubitz das Flugzeug und die 149 Mitreisenden in selbstmörderischer Absicht in den Tod gesteuert habe. Bereits damals gab es kurz darauf jedoch etliche weitere Theorien, wie auch Blick berichtete.
Experten zweifeln Theorie an
Ein Team aus Experten begann zwei Jahre nach dem tragischen Vorfall, den Absturz neu zu untersuchen. Die Fachleute kommen zum Schluss, dass Lubitz nicht schuld war. Der österreichische Fachjournalist Simon Hradecky leitete diese Untersuchungen.
Simon Hradecky (63) ist ursprünglich gelernter Elektroniker, bevor sich der technische Mathematiker auf Softwareentwicklung spezialisierte und selbständig machte. Seinem Interesse für Luftfahrt ging er erst nur in seiner Freizeit nach. Er habe angefangen, sich Unfallberichte zu besorgen und mathematische Modelle herbeizuziehen, um diese zu erklären. Von seinem besten Freund sei er schliesslich überredet worden, seine Berichte öffentlich zu machen.
Simon Hradecky (63) ist ursprünglich gelernter Elektroniker, bevor sich der technische Mathematiker auf Softwareentwicklung spezialisierte und selbständig machte. Seinem Interesse für Luftfahrt ging er erst nur in seiner Freizeit nach. Er habe angefangen, sich Unfallberichte zu besorgen und mathematische Modelle herbeizuziehen, um diese zu erklären. Von seinem besten Freund sei er schliesslich überredet worden, seine Berichte öffentlich zu machen.
Nachdem er bereits mit dem «Kurier» über die neu gewonnenen Erkenntnisse gesprochen hat und da bald eine dreiteilige Serie auf Sky erscheint, erzählt er auch gegenüber Blick, was ihn zu dieser Arbeit bewog und zu welchem Schluss man kam.
Der Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015
Als er am 24. März 2015 in seinem Büro sass und mitbekam, dass eine deutsche Maschine vermisst wird, habe er sich sogleich in die Recherchen gestürzt. Die Vorverurteilung, dass der Co-Pilot Andreas Lubitz (†27) das Flugzeug in selbstmörderischer Absicht in den Berg gelenkt haben soll, habe er nie verstanden, sagt er. Als er einen ersten Bericht auf seinem Onlineportal «The Aviation Herald» veröffentlichte, sei er von Freunden gewarnt worden. Er habe sich mit mächtigen Gegnern angelegt, sagten sie. Damit meinten sie unter anderem die Firma Airbus und die Lufthansa. Er sagte sich aber, «wenn ich das, was ich weiss, nicht berichte, kann ich nicht mehr in den Spiegel schauen».
Unterstützung von Angehörigen und leere Ordner
Die Hintergrundrecherchen zu dem Fall hätten über acht Jahre gedauert, erzählt Hradecky. Die nötigen Akten habe er in Zusammenarbeit mit Angehörigen von der Staatsanwaltschaft erhalten. «Diese Familien suchen nach der Wahrheit», erzählt er. Die Akten der deutschen Ermittlungen allein hätten über 17’000 Seiten beinhaltet. Bei den französischen Akten seien es nur etwa 5000 gewesen. Viele Untersuchungen fehlten gänzlich, und Hradecky erzählt von zahlreichen leeren Ordnern.
Fehlende Protokollierung der Wrackteile
Was auch fehle, seien die Wrackfeld-Protokolle. Mit gelben Fähnchen wurden Wrackteile an der Unfallstelle gekennzeichnet und mit roten Fähnchen menschliche Überreste. «Diese Nummern und Fotos müssten irgendwo sein. Sind sie aber nicht», erklärt Hradecky. Auch hätten die menschlichen Überreste protokolliert werden müssen, und zwar vom Unglücksort bis ins Labor.
Aufgrund der vorhandenen Nummern wisse man nur, dass die DNA im «absoluten Einschlagkrater» nicht von Lubitz stamme, sondern vom Piloten Patrick Sondenheimer. Und in den Akten stehe lediglich, dass an der «durchschlagenen Windschutzscheibe menschliche Überreste anhaften», so Hradecky. «Das heisst, die Person, die im Cockpit gesessen hat, muss die Scheibe durchschlagen haben», erklärt er weiter.
Falsche Sitzordnung und Mikrofonverteilung
Die Sitzordnung im Cockpit ist immer die gleiche. Der Pilot sitzt links auf Sitz eins und der Co-Pilot rechts auf Sitz zwei. Faktisch habe also Lubitz auf Sitz zwei sitzen müssen. Unmittelbar bevor jemand das Cockpit verliess, seien entscheidende Sätze gefallen, die protokolliert wurden. Aus dem Mikrofon zwei des rechten Sitzes hiess es: «Ich geh dann mal weg, dein Funk.» Das erste Mikrofon, der linke Sitz, bestätigte die Übergabe: «Mein Funk.» Demzufolge habe die Person auf dem rechten Sitz das Cockpit verlassen, also Andreas Lubitz. In Berichten war aber zu lesen, dass der Pilot das Cockpit verlassen und Lubitz allein im Cockpit gesessen habe, als er die Maschine ins Unglück steuerte.
«Die Ermittler hätten das wissen müssen» so Hradecky. Da bereits Lubitz für das Drama verantwortlich gemacht wurde, sei das für Airbus und Lufthansa wohl die beste Lösung gewesen, sagt er. Auch habe wohl niemand damit gerechnet, dass er so tief graben und überhaupt an die Akten kommen würde – was tatsächlich auch mehrere Jahre gedauert habe.
Lubitz soll Selbstmord geprobt haben
Dass Andreas Lubitz das Verstellen der Reiseflughöhe zu Selbstmordzwecken geprobt haben soll, sieht Hradecky als komplett abwegig an. «Flugdatenschreiber zeichnen jede Sekunde erneut auf. Ein Pilot kann das System nicht austricksen und absolut synchron mit diesen Aufzeichnungen mit der Höhe spielen», erklärt er.
Mit seinen Berechnungen könne er weiter beweisen, dass das keine menschliche Aktion gewesen sei. Ohne die menschlichen Fähigkeiten zu berücksichtigen, liege die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Mensch das hinkriege, liege bei 1:370’400. «Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einen Fünfer im Lotto zu treffen, liegt bei 1:60’223», rechnet Hradecky.
Unter Einbeziehung menschlicher Fähigkeiten und Einschränkungen (Human Factors) sind diese Änderungen der Zielhöhe für Menschen definitiv nicht machbar. Eine technische Fehlfunktion hat so also bereits auf dem Hinflug existiert. Warum in Barcelona nichts gemeldet wurde, ist unklar.
Transkript zeichnet Atmung von Person in Cockpit auf
In dem Transkript, das Hradecky ebenfalls analysierte, zeigte sich, dass sich die Atmung des auf dem linken Sitz im Cockpit verbleibenden Piloten beschleunigte. Er legte das Dokument Medizinern vor, die einstimmig zum Schluss kamen, dass diese Beschleunigung auf einen medizinischen Notfall hindeute.
Ein Mensch, der so atme, hätte keine physische oder mentale Aktivität mehr entwickeln können. Dem Transkript sei zu entnehmen, dass sich die Flughöhe 25 Sekunden nach der Türschliessung, die noch aufgezeichnet wurde, drastisch verringerte. Ab dem Schliessen der Türe sei kein Geräusch mehr aufgezeichnet worden, das einer menschlichen Aktion im Cockpit hätte zugeordnet werden können. Wäre der Knopf für die Reisehöhe verstellt worden, hätte dies ein Geräusch gemacht. «Das hätte man hören müssen», sagt er.
Gelöschte Handydaten
Was Hradecky weiter an der Selbstmord-Theorie zweifeln lässt, sind die Telefone und anderen elektrischen Geräte der Verstorbenen, die die Angehörigen teils zurückerhalten hatten. Die Geräte hätten sich zwar in gutem Zustand befunden, jedoch seien keine Daten mehr drauf gewesen. Die Geräte seien einem Speziallabor übergeben worden mit der Bitte, das, was geht, zu rekonstruieren. «Das Labor stellte jedoch fest, dass die Daten nachträglich gelöscht worden waren», sagt Hradecky.
«Da stellt sich doch die Frage nach dem Warum», meint er weiter. «Es ist doch anzunehmen, wenn jemand an die Cockpit-Tür gehämmert hätte, wie es berichtet wurde, hätte das jemand gefilmt. Vielleicht zeigten die Aufnahmen den falschen Piloten», schlussfolgert er. Somit hätte man die Katastrophe nicht Lubitz zuschreiben können, findet Hradecky.
Psychiatrisches Gutachten
Die Erklärungen, dass es sich bei dem Absturz um einen Selbstmord handelte, fussten schnell darauf, dass Lubitz früher in psychiatrischer Behandlung war. Der Arzt bestätigte Lubitz jedoch am 29. Januar 2015 vollkommene Gesundheit und erstellte ein entsprechendes Gutachten.
Am 16. März hielt er erneut in dessen Krankenblatt fest, dass keine Selbstmordgefährdung bestehe. Und seine Probleme mit der Sehkraft, die er bei mehreren Ärzten abklären liess, konnten nie ergründet werden.
Hausdurchsuchung und ein rätselhaftes iPad
Hradecky erklärt, dass für die Wohnungen beider Piloten Hausdurchsuchungen angesetzt worden seien. Jedoch sei später entschieden worden, dass beim Piloten Sondenheimer keine Durchsuchung mehr vorgenommen werden müsse. Bei Lubitz und seiner Freundin wurden zwei iPads gefunden. Auf beiden fanden sich keine verfahrensrelevanten Inhalte.
Zwei Tage später brachte seine Lebensgefährtin ein drittes Gerät zur Polizei. Dieses habe sich bei der Durchsuchung nicht in der Wohnung befunden. Es sei auch nirgendwo festgehalten, wo das iPad herkam. Auf ebendiesem Gerät wurde nach bestimmten Medikamenten, Informationen zu Cockpit-Türcodes und anderem gesucht. «Es könnte aber auch sein, dass das Tablet einem Angehörigen von Lubitz’ Partnerin gehört habe, der kurz zuvor nach langem Leiden gestorben war», mutmasst Hradecky. Das wurde aber nie geklärt.
Analysen mit eigener «Flight Control Unit»
Um die Möglichkeit zu beweisen, dass es sich bei dem schrecklichen Geschehen um einen technischen Fehler handeln könnte, hat Hradecky mit Flight Control Units (FCU) Tests gemacht. Die FCU ist das Pult mittig über den Bildschirmen für die Instrumente. Dort werden Einstellungen für den Autopiloten wie Zielhöhe, Kurs, Geschwindigkeit usw. eingegeben, aber auch die Instrumenteneinstellung für die Bildschirme darunter. «Im Wesentlichen behandeln wir also nur die Eingabe für die Autopiloten», sagt Hradecky.
«Ich habe über Monate Möglichkeiten ausgetestet, wie sich ein solcher Fehler provozieren lässt und es auch herausgefunden.» Als Hradecky seine Erkenntnisse einem erfahrenen Piloten und Ausbildner unterbreitete, der auch von der Selbstmord-Theorie überzeugt gewesen war, sei ihm «alles aus dem Gesicht gefallen», so sehr sei er über die Informationen erschrocken.
Auch die Behörden sagten immer, dass das nicht möglich sei. «Das aber ist nachweislich falsch», erzählt Hradecky im Gespräch.
Kontakt zu Angehörigen und neue Untersuchungen
Er habe nach wie vor Kontakt zu einer Reihe von Familien und so auch zur Familie des beschuldigten Andreas Lubitz. Die Familie des Piloten habe leider nie geantwortet. Hradecky betont, dass es ihm wichtig sei, nicht die Schuld von einem Piloten auf den anderen zu schieben. Er kommt für sich aber zum Schluss, dass «das kein Selbstmord war». Mit der Veröffentlichung seiner Erkenntnisse hofft er, dass die Untersuchungen erneut aufgenommen werden. «Und zwar nicht von einer europäischen Behörde, die eventuell wirtschaftlichen und/oder politischen Interessen unterliegen könnte», sagt er. Am wünschenswertesten wäre es für ihn, wenn die australische Behörde ATSB diese leiten würden. Dort habe es nämlich ähnliche Vorkommnisse mit Maschinen der Firma Airbus gegeben, sagt Hradecky.
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:
- Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143 www.143.ch
- Beratungstelefon von Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147 www.147.ch
- Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben
- Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
- Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da:
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Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben
- Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
- Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net