In der Geschichte der Logik gibt es eine ärgerliche Regel, benannt nach dem Franziskaner-Mönch Wilhelm von Ockham aus dem 14. Jahrhundert. Die Regel hat den seltsamen Namen «Ockhams Rasiermesser» und besagt: Gibt es für einen Sachverhalt mehrere Erklärungen, dann möge man die einfachste von ihnen bevorzugen. Einfach heisst: möglichst wenige Variablen und Hypothesen.
Was für ein Jammer für jeden Geschichtenerzähler mit Fantasie! Und was für ein steter Quell der Plage für jeden Journalisten: Entweder, weil er eine hübsch komplizierte Erklärung wieder aufgeben muss. Oder weil er – was öfter geschieht – seinem Publikum eine ganz einfache Story erzählen will.
Eine einfache Story wie diese: An einem Märzmorgen besteigt ein Co-Pilot einen Passagierjet. Der Mann heisst Andreas Lubitz und hat Selbstmordgedanken. Als sein Captain kurz das Cockpit verlässt, schliesst sich der Co-Pilot ein und steuert das Flugzeug zielstrebig in eine Gebirgswand. Er tötet so sich und die 149 Mitreisenden.
Jeder Journalist, der in den vergangenen zwei Wochen diese Story erzählte, wird sich bisweilen einen Mönch Wilhelm von Ockham an die Seite gewünscht haben. Denn ein lautstarker Teil des Publikums wollte und will die Story nicht akzeptieren. Sie ist einfach zu simpel!
Natürlich reicherten die Medien Andreas Lubitz’ Geschichte an, mit Radarpfaden, Blackbox-Protokollen und Einzelheiten aus dem Leben des Co-Piloten. Doch die Zweifler verstummten nicht. Der Fall Germanwings ist ein Paradebeispiel dafür, dass in der modernen Medienwelt einfache Erklärungen nicht akzeptiert werden. Einfach geht nicht. Kompliziert geht immer. Ockhams Regel auf den Kopf gestellt.
Inzwischen gibt es eine Menge komplizierter Erklärungen für den Absturz von Flug 4U 9525:
- Die Boeing 777 kann per Bodenkontrolle programmiert und so ferngesteuert werden. Hobbyfunker wollen das auf militärischen Kanälen erfahren haben. Hackten sich also Terroristen oder Geheimdienstler in die Flugkontrolle? Etwa die Russen, als Rache für Europas Ukraine-Politik? Die Theorie hat einen Haken: Flug 4U 9525 war ein Airbus 320 – älter als jede Boeing 777 auf der Welt.
- Die These von Lubitz’ erweitertem Selbstmord stützt sich auf Informationen der französischen und deutschen Staatsanwälte. Doch Airbus ist ein europäisches Gemeinschaftsunternehmen. Haben nicht Frankreich und Deutschland grosses Interesse daran, mechanische Probleme des A320 zu vertuschen? Aber klar! Und über technische Defekte wurde von Anfang an spekuliert. Beliebteste Ideen im Internet: ein fehlerhaftes Leitsystem oder Giftdämpfe im Flugzeug.
- Allerdings müssten sich für eine Vertuschung Hunderte Ermittler absprechen, oder? Nicht unbedingt, wird spekuliert: Es reicht, wenn die Verschwörer einen Helfer ins Trümmerfeld schicken, um einen Flugschreiber zu platzieren oder zu finden und auszutauschen. Das erklärt gleich zwei Dinge: Warum man die erste Blackbox schnell fand – und die zweite lange nicht. Alles klar?
- Vor gut einer Woche erschienen auf der Webseite Youtube Tonspuren, angeblich platziert von Journalisten. Man hört darauf das Poltern an die Cockpit-Tür und leise Schreie. Dummerweise griffen die Fälscher dieser Aufnahmen zur falschen Alarmsirene, nicht jener des A320. Schlaumeier sagen nun: Die Fälschungen beweisen, dass die ganze Selbstmordthese gefälscht ist! Richtig sei bloss, dass Medien die Aufnahmen durchsickern liessen. Quasi ein Flüchtigkeitsfehler der Verschwörer.
- Manche Fabulierer akzeptieren dagegen die seltsamen Tonspuren. Aber sie glauben zu hören, wie Andreas Lubitz auf Arabisch murmelt: «Tawakkaltu Ala-Allah» – ich vertraue auf Allah. Lubitz, ein islamistischer Terrorist? Völlig verkehrt, sagen wieder andere und behaupten: Lubitz hatte jüdische Wurzeln.
- Ganz schnell fiel der Verdacht der Internet-Gemeinde auf die USA. Eine entsprechende Version lautet: Die US-Armee testete im Mittelmeer ihre neue Laserkanone. Aber statt einer Testrakete schoss sie aus Versehen den Germanwings-Jet ab.
- In einer Variante dieser Geschichte schoss eine Militärmacht – welche, steht noch aus – das Flugzeug bewusst ab. Ziel war eine einzelne Person an Bord: die US-Amerikanerin Yvonne Selke, die im Pentagon an einem 315-Millionen-Dollar-Projekt arbeitete. Warum sollte sie beseitigt werden? Die Theorie dazu ist noch in Arbeit.
- Oder waren es doch die Amerikaner? In einer verbreiteten Theorie benutzte die CIA Lubitz für ihre schrecklichen Experimente in Sachen Gedankenkontrolle, in der Verschwörungsliteratur verbreitet seit den 1960er-Jahren. So soll also der arme Co-Pilot unter dem Einfluss von Drogen und Gehirnwäsche auf den Berg zugesteuert sein – was erklärt, warum seine Atemzüge so ruhig klangen, obwohl hinter ihm der Captain verzweifelt gegen die Cockpit-Tür trommelte.
Und? Überzeugt?
Der Fall Germanwings zeigt quasi live, wie eine eigentlich einfache Erklärung aufquillt zu einem Wust komplizierter Theorien. Eine Gewitterwolke des Zweifels und des Misstrauens.
Neuropsychologe Andreas Kyriacou ist Präsident der Zürcher Freidenker-Vereinigung und beschäftigt sich oft mit Verschwörungstheorien. Das verbreitete Misstrauen «da draussen» kann er eigentlich verstehen: «Ich finde es ja an sich gut, dass man etwas auf die eigene Meinung gibt. Ich zähle mich selber zur Skeptikerszene. Aber hier ist etwas anderes am Werk.»
Die meisten der Dauerskeptiker offizieller Versionen, so glaubt Kyriacou, pflegen in Wahrheit schlicht ihre Feindbilder: die mächtigen USA, die korrupten Konzerne, die verlogenen Medien. «Das Misstrauen wird genährt von realen Verfehlungen», sagt Kyriacou: «Die US-Regierung log auch schon mal. Staatsanwälte lagen schon mal völlig falsch. Medien machten krasse Fehler.»
Das legitimiert jeden Argwohn gegen «offizielle Versionen». Da Medien auch zu den «Offiziellen» gezählt werden, hört man ihnen nicht mehr zu. Kyriacou: «Verschwörungsgeschichten haben einen antiautoritären Zug. Darum zieht es auch nicht, wenn man ihren Anhängern sagt: Eine grosse Mehrheit gescheiter Leute ist klar anderer Meinung.»
Wie geht es jetzt weiter? Werden die Germanwings-Legenden verschwinden? Wohl kaum. Viele Medienkritiker, misstrauische Leser und Internet-Theoretiker verweisen zwar darauf, man solle jetzt zuerst den
Abschlussbericht der Untersuchungsteams abwarten. Aber wieso sollen die Skeptiker dann glauben, was sie jetzt nicht glauben können? Bis dann wird eine kleine Fabulier-Industrie bereits erste Sachbücher veröffentlicht haben. Ziemlich sicher erweitert durch Freimaurer- und Alien-Theorien.
Armer Willhelm von Ockham! Schon vor 700 Jahren hatte der Mönch uns geraten, wir sollten uns mit der einfachsten Lösung zufriedengeben.
Eine einfache Idee. Die sich einfach nicht durchsetzt.