Ganz sanft ist die Stimme des Richters mit der altertümlich anmutenden Perücke am Londoner High Court, als er das Urteil im Berufungsverfahren um den US-Auslieferungsantrag für Julian Assange verkündet. Doch der Inhalt gleicht einem Paukenschlag: Der Wikileaks-Gründer kann an die USA ausgeliefert werden, so die Entscheidung. Die Bedenken um sein Wohlergehen, die ein Gericht in erster Instanz noch dazu bewogen hatten, die Auslieferung abzulehnen, seien durch Zusicherungen aus Washington aus dem Weg geräumt, fährt der Richter fort. Die Entscheidung solle nun in den Händen der britischen Innenministerin Priti Patel liegen.
Assange selbst ist bei der Urteilsverkündung nicht dabei. Der 50-jährige Australier mit den schneeweissen Haaren sitzt seit mehr als zwei Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Südosten der britischen Hauptstadt ein – zusammen mit Mördern und Terroristen – ohne überhaupt verurteilt worden zu sein. Es ist vor allem seine psychische Gesundheit, die seinen Angehörigen Sorgen bereitet.
«Fundamente der Pressefreiheit und der Demokratie»
Assange ist kein einfacher Mensch, er gilt manchen sogar als streitsüchtig – doch ist er ein mutmasslicher Schwerverbrecher? Oder eher ein Opfer staatlicher Willkür? Auf diese Fragen ging der Richter am Freitag nicht ein.
Assange wird seit einiger Zeit in der Öffentlichkeit vor allem von seiner Anwältin und Verlobten Stella Moris vertreten. Sie kritisiert nicht nur das am Freitag ergangene Urteil im Berufungsverfahren, sondern auch die Entscheidung der Richterin in erster Instanz. Die hatte bei ihrem Urteil im Februar – abgesehen von den Sorgen um Assanges Gesundheit – den Argumenten der US-Justiz nämlich ausnahmslos zugestimmt. Doch nicht nur Moris zufolge geht es um weit mehr als um schlechte Haftbedingungen.
«Es geht um die Fundamente der Pressefreiheit und der Demokratie», sagt Moris mit bebender Stimme in die Mikrofone der versammelten Journalisten nach dem Urteil und fügt hinzu: «Heute ist der Internationale Tag der Menschenrechte, was für eine Schande.»
Schmiedete der CIA sogar Mordpläne?
Moris sieht inzwischen in der britischen und US-amerikanischen Justiz den verlängerten Arm einer Staatsmacht, die an dem Vater ihrer beiden Kinder ein Exempel statuieren will. Dem Geheimdienst CIA wirft sie vor, sogar Mordpläne gegen Assange geschmiedet zu haben. Das hatten zumindest Investigativ-Journalisten für Yahoo News unter Berufung auf ungenannte US-Quellen berichtet.
Assange hatte sich mehrere Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft in London einer Festnahme wegen später fallengelassener Vergewaltigungsvorwürfe aus Schweden entzogen. Während dieser Zeit entwickelte sich die Beziehung mit Moris. Das Paar hatte noch vor kurzem Heiratspläne angekündigt.
Die US-Justiz wirft Assange vor, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan sowie eine riesige Zahl diplomatischer Depeschen gestohlen und auf der Internet-Plattform Wikileaks veröffentlicht zu haben. Damit sei das Leben amerikanischer Informanten in vielen Ländern in Gefahr gebracht worden. Für die US-Ermittler ist Assange ein Spion. Ihm droht ein Strafmass von bis zu 175 Jahren.
Kriegsverbrechen durch US-Truppen aufgedeckt
Doch seine Unterstützer argumentieren, die Veröffentlichungen hätten Kriegsverbrechen aufgedeckt. Beispielsweise zeigte ein Video die Tötung von Zivilisten durch die Besatzung eines US-Hubschraubers im Irak. Anders als Assange musste sich von den beteiligten Soldaten bislang kein einziger vor Gericht verantworten.
Die Whistleblowerin Manning sass für die Weitergabe der Dokumente von 2010 bis zu ihrer Begnadigung durch den früheren US-Präsidenten Barack Obama im Jahr 2017 im Gefängnis. Die Frage, ob auch Assange strafrechtlich belangt werden kann, der keiner Pflicht zur Geheimhaltung unterlag, rüttelt nicht nur nach Meinung von Moris an den Grundfesten der Pressefreiheit.
«Wir sind der festen Überzeugung, dass Julian Assange wegen seines Beitrags zum Journalismus ins Visier genommen wurde. Sein Prozess wird gefährliche Auswirkungen auf die Pressefreiheit auf der ganzen Welt haben», sagte der Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF), Christian Mihr als Reaktion auf das Urteil in London. Das Urteil markiere einen «düsteren Moment für den Journalismus auf der ganzen Welt» ausgerechnet an dem Tag, an dem die Vergabe des Friedensnobelpreises an zwei Journalisten gefeiert werde, hiess es in der RSF-Mitteilung weiter.
Die von Assanges Unterstützern vor dem Gerichtsgebäude mitgebrachten Schilder mit der Aufschrift «Free at Last» («Endlich frei!») bleiben am Freitag ungenutzt am Rande des Geschehens stehen. Aufgeben kommt für die Aktivisten aber nicht infrage. «Es kann nur eine Lösung geben: keine Auslieferung», skandieren sie nachdem die Nachricht über die Niederlage aus dem Gerichtssaal auf die Strasse dringt – auch wenn diese mit der jüngsten Entscheidung ein Stück wahrscheinlicher geworden ist. Doch das juristische Tauziehen um Assange dürfte noch nicht am Ende sein. Assanges Anwälte kündigten an, vor den Supreme Court zu ziehen. (SDA)