Noch kann Nils Melzer sprechen. Noch hören ihm die Leute zu. Anders als bei Chelsea Manning, Edward Snowden, Julian Assange, die neben ihm stehen, in Bronze gegossen. «Anything to say» heisst die Skulptur, doch die drei blicken stumm auf den Genfersee. Die Whistleblower wurden mundtot gemacht. Das Blatt, auf dem steht, wie die Geschichte von Nils Melzer ausgeht, ist noch leer. Jetzt, am 4. Juni, spricht er in Genf – vor Assanges Verlobten, der Genfer Stadtpräsidentin, einem Genfer Ständerat und Aktivisten, die ihre Fäuste in die Luft strecken. «Julian Assange wurde dämonisiert und verfolgt», sagt der 51-Jährige ins Mikrofon. «Weil er die Wahrheit sagte. Er muss frei kommen.» Dafür kämpft der Uno-Sonderberichterstatter für Folter.
Seit zwei Jahren steht «Mr. Melzer», wie ihn die «New York Times» nennt, deshalb im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Wegen der Tragweite des Assange-Falls. Seit Wikileaks 2010 geheime Dokumente veröffentlichte, blickt die ganze Welt auf deren Gründer Assange. Die Enthüllungsplattform deckte mutmassliche Kriegsverbrechen der USA auf. Und Assange wurde zum US-Staatsfeind, war fast zehn Jahre lang auf der Flucht. Derzeit sitzt er in England in Einzelhaft, ist suizidgefährdet, ihm drohen die Auslieferung an die USA – und 175 Jahre Gefängnis wegen Spionage.
Genau das will der Mann verhindern, der für die Untersuchung von Folter in 193 Uno-Staaten zuständig ist. Unzählige Interviews hat Melzer zum Fall Assange schon gegeben, mantramässig wiederholt, was er auch in seinem Buch «Der Fall Julian Assange» sagt: An Assange soll ein Exempel statuiert werden, zur Abschreckung aller, die dunkle Staatsgeheimnisse ans Licht zerren wollen. Ein Komplott der Grossmächte.
Vom Funktionären zum Widerstandskämpfer
Im Mai waren auch in der Schweiz alle Kameras auf Nils Melzer gerichtet, als er sein Heimatland ins Visier nahm. Melzer war der bekannteste Kopf der Gegner des Anti-Terror-Gesetzes, trat in der SRF-«Arena» gegen Karin Keller-Sutter an. Im Fall Brian gegen die Zürcher Justiz. Melzer intervenierte, weil der Junge seit fast drei Jahren in Isolationshaft sitzt – psychische Folter erleide. Die Antwort des Aussendepartements (EDA) steht noch bis spätestens Mitte August aus. Das Zürcher Amt für Justizvollzug reagierte prompt pikiert.
Gegenwind ist Melzer sich gewohnt. Er nimmt ihn hin. Daily Business. Ganz anders im Fall von Assange. Kein anderer hat so tiefe Spuren in Melzers Biografie und Persönlichkeit hinterlassen. Der Fall Assange machte aus dem Funktionären einen Widerstandskämpfer. Melzer selbst sagt: «Ich bin zum Whistleblower geworden.»
Wer ist dieser Mann?
Kurz nach dem Assange-Event setzen wir uns mit ihm ans Ufer des Genfersees. Die Müdigkeit drückt auf seine Schultern, fünf Stunden Schlaf – mehr gönnt er sich nicht pro Nacht. Melzer kennt nur einen Modus: hochtourig.
«Andere fliegen für drei Wochen auf die Malediven an den Strand, das könnte ich nicht. Wenn wir mit den Kindern in die Badi gehen, schwimme ich einen Kilometer, lege mich zwanzig Minuten hin und muss wieder etwas tun. Sonst werde ich unerträglich.»
Er will allen helfen
Jeden Tag erhält der Uno-Mann ein Dutzend Folterhinweise. Nur bei einem kann er eingreifen. Ein aussichtsloser Kampf, ein endloser dazu, das Leid, es hört nie auf, auch in seinem Kopf nicht. In einem Schwall strömt das Grauen aus ihm heraus: Eine Migrantin, die über Mexiko in die USA wolle, habe ein 75-prozentiges Risiko, vergewaltigt zu werden. In Libyen bestehe ein 98-prozentiges Risiko. Und dann die häusliche Gewalt ...
Man wird den Eindruck nicht los, dieser Mann trage die Last der ganzen Welt mit sich. Herr Melzer, warum tun Sie sich das an?
«Ich kann nicht anders. Ich habe ständig das Gefühl, dass die Fälle brachliegen, wenn ich nichts unternehme. Ich fühle mich verantwortlich.»
Es ist dieses starke Gefühl, das ihn anpeitscht, ihn zum Getriebenen macht.
Wenig ist über den Menschen hinter dem Uno-Funktionär bekannt. Melzer wuchs in Zürich auf, mit einer schwedischen Mutter, Physiotherapeutin, alleinerziehend. «Ich habe mich selber erzogen, war ein Freigeist», sagt er. Sein Vater war Entwicklungshelfer, oft abwesend, nahm ihn mit auf Reisen. Das prägte. Melzer studierte Jus, ging als Delegierter zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, doktorierte über gezielte militärische Tötungen. Später beriet er das EDA in sicherheitspolitischen Fragen. Bis der Posten bei der Uno frei wurde.
Seit 2016 klärt er nun Foltervorwürfe ab, besucht Gefangene, greift ein, wenn nötig. Über Jahre tat er das nie polternd, nie polemisch. Aber stetig – durch Berichte, durch Briefe, die einzigen Druckmittel eines Uno-Sonderberichterstatters. Melzer sagt: «Das meiste davon liest keiner.» Damit fand er sich ab, bis der Fall Assange in seinem Postfach landete.
Melzer nahm sich seiner an, stiess auf Verstösse gegen das Folterverbot sowie systematische Justizwillkür. Im Frühling 2019 intervenierte er bei den USA, England, Schweden und Ecuador. Doch die Staaten gingen kaum darauf ein. Und so tat er, was er zuvor noch nie getan hatte: Er ging an die Öffentlichkeit, legte sich mit den Mächtigen an. Erst durch Interviews mit SonntagsBlick und dem Onlinemagazin «Republik», danach in der Weltpresse. Melzer hat den Lichtkegel auf die politische Verfolgung von Assange gelenkt. Den Mann, von dem sich die Medien wegen eines mittlerweile eingestellten Vergewaltigungsverfahrens längst abgewandt hatten.
Ist er ein Aktivist?
Dabei geht der Sonderberichterstatter weit. Gibt auch fragwürdigen Medien wie dem russischen Propagandasender RT ein Interview.
Warum, Herr Melzer?
«Weil RT das einzige Medium war, das sich für den Assange-Fall interessierte. Die westlichen Medien ignorierten ihn.»
Für die Kritiker ist das ein weiterer Beleg dafür, dass der Uno-Funktionär ein Assange-Aktivist ist, wie ihn die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» kürzlich bezeichnete. Und in der «NZZ» stellte ihn eine Strafrechtsprofessorin sogar als Verschwörungstheoretiker dar.
Pascal Willi (51), Melzers bester Freund, ärgern diese Labels. Die beiden kennen sich aus Gymizeiten. Der IT-Berater sagt: «Dieses Bild ist völlig falsch. Nils ist keiner, der gerne provoziert oder Streit sucht. Er ist ganz Jurist. Faktenorientiert.» Das zeige alleine sein Assange-Buch. Darin liste er fast schmerzhaft minutiös alle Belege auf, die er im Fall zusammengetragen habe.
Wie sieht es Melzer selbst? Herr Melzer, machen Sie sich nie Sorgen um Ihre Glaubwürdigkeit?
«Viele verstehen nicht: Ich bin ein Aktivist, aber nicht für Assange, sondern für die Rechtsstaatlichkeit.» Wenn er in möglichst vielen Fällen jeweils ein bisschen etwas mache, werde er dafür gefeiert, könne letztlich aber nichts bewirken. Im Assange-Fall habe er Beweise für ein Systemversagen. «Hier habe ich die Chance, etwas zu erreichen, das über den Fall hinausreicht.»
Und was?
«Den Schutz der Pressefreiheit und des Rechtsstaates.»
Der Glaube als Treibstoff
Warum Melzers innerer Kompass unempfänglich für Störmanöver ist, zeigt ein Blick in sein Arbeitszimmer. Er hat uns Ende Juni in sein Haus nahe Biel eingeladen, wo er mit seiner Frau und den beiden Töchtern lebt. An der Wand hängt ein Mosaik mit einer weissen Taube mit Glorienschein. Ein Bild des Heiligen Geistes.
Herr Melzer, an was glauben Sie?
«Ich versuche, etwas Grösserem zu dienen. Bei allem, was ich tue, geht es nicht um mich.»
Melzer entdeckte seine Spiritualität mit 28. Er hatte gerade seinen Job gekündigt, steckte in einer Sinnkrise. Bei einer Freikirche fand er Halt, liess sich von der Gruppe auch im Zürichsee taufen. Nach ein paar Monaten wurde es ihm zu eng, er ging seinen eigenen Weg. Geblieben ist der Glaube, der für seine Bewerbung beim Roten Kreuz, IKRK, entscheidend war.
«Ich fragte in einem Gebet, was ich tun soll, und sah innerlich vier Buchstaben vor mir: IKRK.» Er wolle keinen falschen Eindruck erwecken. Er sei nicht von Gott auserwählt. «Es war eine innere, sehr persönliche Führung.»
Seitdem vertraut er. Seitdem kennt er kaum noch Angst.
Das trug ihn durch die zwölf Jahre als Delegierter beim IKRK. In Flüchtlingslagern auf dem Balkan sammelte er Hinweise auf Kriegsverbrechen. Suchte die Eltern von verloren gegangenen Kindern, die so klein waren, dass sie weder ihren Namen noch jenen von Mutter und Vater wussten. Kam in Gefängnisse, in die die USA Leute für Folterverhöre verschleppt hatten. 2009, nach einem Einsatz in Afghanistan, war Schluss. Kurz bevor er in Kabul landete, waren seine Uno-Kollegen in ihren Betten ermordet worden. Und am Abend gabs ein grosses Erdbeben. Melzer dachte an seine schwangere Frau. «Zum ersten Mal hatte ich Angst. Ich spürte: Es ist vorbei.»
Bei der Uno ist er abgemeldet
All die Gräueltaten, zu welchen der Mensch fähig ist – heute will er sie verhindern. Mit dem Mittel, das ihm zur Verfügung steht: die Definition für Folter.
Herr Melzer, was ist Folter?
«Bei Folter gehts nicht nur um Daumenschrauben. Folter zeigt sich in allen Formen, bei denen vorsätzlich Schmerz zugefügt wird, um etwas zu erreichen.»
Folter ist für Melzer wie eine Landkarte um das Jahr 1500 – voller weisser Flecken. Er füllt sie. Kartiert neu. In offiziellen Berichten zuhanden der Uno-Generalversammlung und des Uno-Menschenrechtsrats legte er etwa dar, wie Migrationspolitik oder Wirtschaftskorruption zu Folter führen können. Und konzentriert sich dabei besonders auf Verstösse von westlichen Staaten, «weil sie sich oft als Menschenrechtschampions darstellen», sagt er.
Dafür zahlt er einen hohen Preis. Das Mandat eines Sonderberichterstatters ist ein Ehrenamt, die Forschungsgelder fliessen nur, wenn die einzelnen Staaten Lust dazu haben. Melzer sagt, Norwegen habe 100’000 Dollar zurückverlangt. Und Dänemark, das ihm anfangs finanzielle Unterstützung zugesichert habe, reagiere nicht mehr.
Die Schweiz finanziert eine Mitarbeiterin und unterstützt den «Human Rights Chair», den er an der Genfer Akademie für Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht besetzt. Doch der Vertrag läuft im Oktober 2022 aus.
«Der Fall Assange hat meine Uno-Karriere beendet», sagt er jetzt in ruhigem Ton. Durch die Tür dringen dumpf die Stimmen seiner Töchter (8 und 11).
Herr Melzer, wie geht Ihre Familie mit all dem um?
«Dass ich so hart am Wind segle und so viel arbeite, ist schwierig für sie.»
Die Töchter teilen ihren Vater mit der halben Welt. Gerade war er für Dreharbeiten zu einem Dokfilm in Schweden, danach gehts nach Wien, während unseres Interviews gehen acht Handynachrichten ein, und ein Anruf vom arabischen TV-Sender Al Jazeera. Pressearbeit.
Die Bitten um Hilfe nehmen zu. Melzer arbeitet alles ab, von acht Uhr abends bis zum frühen Morgen. Wochenende habe er kaum mehr. «Mein Körper macht das wohl nicht mehr lange mit.» Abschalten könne er nur am Klavier, jeden Tag versucht er eine Stunde darauf zu spielen, komponiert mitunter auch selber.
Ist der Preis zu hoch?
Herr Melzer, fragen Sie sich manchmal, ob es die Strapazen wert ist?
«Nein. Wenn ich es mir einfach mache, wird aus mir nichts Besseres. Und darum geht es doch im Leben.»
Nächstes Jahr läuft sein Mandat als Uno-Sonderberichterstatter aus. Dann wird sich zeigen, welchen Preis er am Ende zahlen muss. Melzer hat Vertrauen. Muss er haben, viele Menschen zählen auf ihn. Assanges Verlobte Stella Moris sagt uns in einem ruhigen Moment am Genfersee: «Dank Herrn Melzers Arbeit hat Julian eine Chance freizukommen. Julian droht sonst der Tod.» Eine schwere Bürde für einen einzigen Menschen.
Ab 2010 veröffentlichte die Enthüllungs-Plattform Wikileaks unzählige geheime Dokumente. Diese dokumentierten, wie US-Soldaten im Irak unbewaffnete Zivilisten ermordeten oder Insassen in irakischen Gefängnissen folterten. Wikileaks-Gründer Julian Assange (49) wurde zum Staatsfeind der USA. Dort drohen ihm wegen Spionage 175 Jahre Haft. Derzeit sitzt er aber in einem Hochsicherheitsgefängnis in London. Und das kam so: 2010 erstatteten zwei Schwedinnen Anzeige gegen Assange wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung (die Verfahren wurden später eingestellt). Assange, damals in England, fürchtete eine Auslieferung an Schweden und von dort in die USA. 2012 flüchtete er in die ecuadorianische Botschaft in London. 2019 entzog ihm Ecuador das politische Asyl, die britische Polizei verhaftete ihn und hält ihn seither in Einzelhaft fest. Laut dem Schweizer Uno-Sonderberichterstatter Nils Melzer (51) wurde Assange Opfer psychischer Folter. Im Januar 2021 lehnte ein britisches Gericht seine Auslieferung an die USA in erster Instanz ab – wegen akuter Suizidgefahr.
Ab 2010 veröffentlichte die Enthüllungs-Plattform Wikileaks unzählige geheime Dokumente. Diese dokumentierten, wie US-Soldaten im Irak unbewaffnete Zivilisten ermordeten oder Insassen in irakischen Gefängnissen folterten. Wikileaks-Gründer Julian Assange (49) wurde zum Staatsfeind der USA. Dort drohen ihm wegen Spionage 175 Jahre Haft. Derzeit sitzt er aber in einem Hochsicherheitsgefängnis in London. Und das kam so: 2010 erstatteten zwei Schwedinnen Anzeige gegen Assange wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung (die Verfahren wurden später eingestellt). Assange, damals in England, fürchtete eine Auslieferung an Schweden und von dort in die USA. 2012 flüchtete er in die ecuadorianische Botschaft in London. 2019 entzog ihm Ecuador das politische Asyl, die britische Polizei verhaftete ihn und hält ihn seither in Einzelhaft fest. Laut dem Schweizer Uno-Sonderberichterstatter Nils Melzer (51) wurde Assange Opfer psychischer Folter. Im Januar 2021 lehnte ein britisches Gericht seine Auslieferung an die USA in erster Instanz ab – wegen akuter Suizidgefahr.