Fast vier Tage lang lag Havva Nur Koşar (27) in der kalten Dunkelheit unter schwerem Geröll und eingestürzten Betonpfeilern in ihrem Haus in der Stadt Antakya. Direkt neben ihr der Bruder: tot. Und irgendwo war wohl noch ihre Katze, die sich in den letzten Momenten vor dem Erdbeben in der osttürkischen Provinz Hatay so seltsam benommen hatte.
Nun aber war Havva Nur Koşar ganz allein, mit nichts als ihrem Pyjama und dem schwachen Licht ihres Telefons. Anderthalb Tage lang spendete ihr das Handy ein wenig Licht, ein wenig Trost. Stundenlang rief sie nach Hilfe, bettelte in der Dunkelheit nach Wasser. Doch niemand hörte ihr Flehen. Dann war der Handy-Akku leer – die junge Frau verlor alle Hoffnung. «Als ich dachte, jetzt ist alles vorbei, als ich alle Hoffnung verloren hatte, da bat ich darum, dass ich rasch sterben würde», erzählt die junge Türkin gegenüber Blick.
Sechs Millionen Obdachlose auf einen Schlag
Stattdessen kam Bruno Pinto (22). «Ich betete zu Gott und es kam ein Schweizer», sagt Havva Nur Koşar. Pinto war einer der Helfer, die mit dem Schweizer Rettungsteam unmittelbar nach dem verheerenden Erdbeben in die Türkei geflogen waren und vor Ort nach Überlebenden in den Trümmern suchten. «Komm, vorsichtig, ok?», rief Pinto durch ein freigeschaufeltes Loch in den Geröllhaufen hinein. Ein Kollege filmte aus dem Hintergrund. Pinto streckte seine Hand aus, redete der traumatisierten jungen Frau unter dem Geröll gut zu: «Sehr gut, du machst das gut. Komm!»
Havva Nur Koşar kam langsam aus dem Geröll gekrochen, barfuss, die Pyjama-Hose mit Sternenmuster komplett verstaubt. In der einen Hand hielt sie das nutzlos gewordene Handy, mit der anderen rieb sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Erst viel später realisierte die junge Frau, welche Katastrophe ihre Heimat heimgesucht hatte. Mindestens 50'000 Menschen hat das Erdbeben vom 6. Februar 2023 getötet, darunter ihren Bruder. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleich gemacht. Fast sechs Millionen Menschen wurden obdachlos. Auch Havva Nur Kosar hatte kein Zuhause mehr.
Schweizer retten elf Menschen aus den Trümmern
Heute lebt sie bei ihren Eltern in der Stadt Gaziantep. Von da aus schickt sie Blick das Video, mit dem sie sich bei ihren Schweizer Rettern bedanken möchte. «Von jetzt an seid ihr Teil jedes Atemzugs. Und solange ich lebe, solange werde ich dankbar sein, dass ihr mir das Leben gerettet habt. Ich bin so froh, dass es euch gibt, dass ihr gekommen seid», sagt Havva Nur Koşar.
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Die junge Türkin ist eine von elf Personen, die das Schweizer Rettungsteam in den ersten Tagen nach der Katastrophe lebend aus den Trümmern retten konnte. 80 Fachkräfte, 8 Suchhunde und 18 Tonnen Material brachte die Schweiz mit einem Spezialflieger direkt ins Krisengebiet.
Nebst den Rettungsaktionen leistete das Team vor Ort Nothilfe in einem Spital und brachte hundert Zelte für obdachlose Familien ins Land. Insgesamt 8,5 Millionen Franken stellte die Eidgenossenschaft für Hilfsprojekte verschiedener Partnerorganisationen vor Ort zur Verfügung (3,1 Million flossen in die Türkei, 5,4 Millionen in die schwer getroffenen Gebiete in Syrien).
Auch die Schweiz hätte das nicht allein geschafft
Ohne diese Hilfe wäre die Not der betroffenen Bevölkerung noch einmal deutlich grösser gewesen, sagt Martin Jaggi, der den Einsatz des schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe vor Ort leitete. Ein Vorwurf an die türkischen Behörden sei das aber nicht. «Bei einer Katastrophe vom Ausmass des Erdbebens in der Osttürkei wären selbst unsere Behörden in der Schweiz auf internationale Unterstützung angewiesen gewesen», betont Jaggi im Gespräch mit Blick.
Und dennoch: Die Wut der notleidenden Bevölkerung in der Osttürkei auf die Behörden ist gross. Viel zu langsam hätten sie reagiert – und dem bösen Spiel korrupter Baubehörden viel zu lange tatenlos zugeschaut, sagen viele. «Ich bin noch wütender als schon vor dem Erdbeben», sagt auch Havva Nur Koşar.
Für sie ist klar: Die Türkei braucht einen politischen Neuanfang. Bei den Wahlen am Sonntag gibt sie deshalb ihre Stimme dem Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu (74). «Ich hoffe, dass das eine gute Entscheidung ist für meine Türkei», sagt sie. Gute Menschen am richtigen Ort, das brauche ihr Land jetzt – mehr denn je.