Die Ukraine zahlt einen hohen Blutzoll für jeden zurückgewonnenen Meter an der Front. Es ist ein Krieg Mann gegen Mann. «Weder der Feind noch wir verwenden grosse Formationen, Kompanien, Bataillone oder Brigaden», sagt Brigadegeneral Oleksander Tarnawski, der Kiews Gegenoffensive entlang der Südfront anführt. «Wir verwenden Sturmtrupps, Gruppen von 10 bis 15 Mann», so Tarnawski im Gespräch mit CNN.
Jeden Augenblick drohe den Soldaten der Tod. Die Männer «leisten eine gigantische Arbeit», so der General. «Sie konzentrieren das feindliche Feuer auf sich und setzen alle Mittel ein, die sie zum Überleben brauchen.» Wobei auch der Brigadegeneral einräumt, dass der Vormarsch nicht so schnell wie erhofft erfolgt – «nicht wie in den Filmen über den Zweiten Weltkrieg», sagt er. «Die Hauptsache ist, dass wir die Initiative nicht verlieren.»
Im vergangenen Winter waren die Kämpfe streckenweise verebbt. Truppen auf beiden Seiten buddelten sich in Schützengräben und Befestigungslinien ein und hielten ihre Frontstellungen, während Kiew noch das nötige Kampfgerät fehlte. In diesem Winter soll der Vormarsch nicht abflauen, bekräftigen ukrainische Militärführer.
Druck gegen Russland aufrechterhalten
Auch Geheimdienstchef Kirill Budanow (37) versicherte in einem am 22. September von «The War Zone» veröffentlichten Interview, die Offensive gehe über den Winter weiter. «Es ist für beide Seiten kein Problem, im Winter zu kämpfen – für uns und für die Russen», so Budanow. «Es ist keine angenehme Sache, aber es ist auch keine grosse Sache.» Es gebe jedoch «eine sehr wichtige Nuance, die einen Unterschied zwischen der aktuellen Kriegsführung und den früheren Kampfperioden ausmacht. Gegenwärtig werden die meisten Kämpfe zu Fuss und ohne Einsatz von Material geführt.»
Dies hänge mit der hohen Sättigung der Artilleriesysteme an vorderster Front und den tragbaren Panzerabwehrwaffen zusammen. Das jahreszeitlich bedingte Wetter werde die Bodenbewegungen verlangsamen und die Logistik herausfordern, die ukrainische Gegenoffensive aber nicht einfrieren.
Das bekräftigt auch Brigadegeneral Tarnawski. Der Druck gegen die Russen gehöre auch im harten Winter aufrechterhalten. Bereits intensive Regenfälle im Herbst würden den Boden aufweichen und die Fortbewegung mit schwerem Gerät wie Panzern erschweren. Daher bewegen sich die ukrainischen Streitkräfte meist zu Fuss, in kleinen Gruppen. «Das Wetter kann ein ernsthaftes Hindernis beim Vormarsch sein», so Tarnawski. «Wenn man bedenkt, wie wir uns vorwärts bewegen, meist ohne Fahrzeuge, glaube ich nicht, dass auch der Winter die Gegenoffensive stark beeinflussen wird.»
Kiew erwartet «grossen Durchbruch»
Der Feind lerne zwar schnell und passe sich der ukrainischen Taktik an. Doch die Ukraine habe Durchbrüche erzielt – «und wir rücken weiter vor». Tarnawski ist überzeugt, dass der grosse Durchbruch der Gegenoffensive gelingen würde, wenn die Ukraine Tokmak einnehmen könne, ein strategisches Zentrum für Russland.
Die ukrainischen Streitkräfte stehen noch rund 20 Kilometer von Tokmak entfernt und bekunden offenbar Mühe, die mehrschichtigen russischen Verteidigungsanlagen zu durchbrechen. Brigadegeneral Tarnawski bleibt zuversichtlich: «Ich glaube, ja, es wird einen grossen Durchbruch geben.»
Erst wenn die ukrainischen Streitkräfte die Stadt erreicht hätten, sei der Grundstein für einen langfristigen ukrainischen Erfolg gesetzt. «Tokmak ist das Mindestziel», so Tarnawski. «Unser wahres Ziel ist es, unsere Landesgrenzen zu erreichen.» (kes)