Das Urteil des Moskauer Stadtgerichts ging um die Welt: Vor einem Monat hat es Kreml-Kritiker Wladimir Kara-Mursa (41) zu 25 Jahren Strafkolonie mit «strengen Haftbedingungen» verurteilt. Es ist die bisher höchste verhängte Strafe gegen einen Regimekritiker in Russland.
Kara-Mursa, der 2015 und 2017 zwei Giftanschläge überlebt hat, wird Hochverrat, Verunglimpfung des russischen Militärs und illegale Arbeit für eine unerwünschte Organisation vorgeworfen. Er hatte den Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine scharf kritisiert.
Doch trotz Gefangenschaft und kompletter Abschottung ertönt seine Stimme weiter. Dafür sorgt seine Frau Evgenia Kara-Mursa (42), die nun an seiner Stelle weltweit über Putins Schreckensregime berichtet und die Blick am Geneva Summit for Human Rights and Democracy getroffen hat. Gegenüber Blick sagt sie: «Die Publizität ist meine einzige Waffe.»
Über 20 Kilo verloren
Ihrem Mann, so erzählt sie, gehe es körperlich sehr schlecht. «Er hat im Gefängnis über 20 Kilo abgenommen.» Die Giftanschläge auf ihn hätten ihre Spuren hinterlassen. «Er hat das Gefühl in den Füssen und in der linken Hand verloren.»
Kommunizieren könne sie mit ihm nur hin und wieder und auch nur über einen Anwalt, der ihr auch gesagt habe, dass ihr Mann viel lese. «Früher hatte er sich immer beklagt, dass er dazu zu wenig Zeit habe», meint Evgenia Kara-Mursa mit einem leichten Lächeln.
Kaum hatte Wladimir Kara-Mursa nach den Giftanschlägen wieder gelernt, zu gehen und mit dem Löffel zu essen, ist er nach Russland zurückgekehrt. «Er wollte seine Freunde nicht im Stich lassen und die Risiken mit ihnen teilen», sagt Evgenia Kara-Mursa.
Auch habe er persönlich seine regelmässige Sendung bei «Echo von Moskau» moderieren wollen – einem Radiosender, der inzwischen mit den letzten unabhängigen Stationen geschlossen wurde.
Angst vor Ermordung
Für sie ist klar, dass der Kreml ihren Mann töten will. «Ich fürchte seit Jahren um Wladimirs Leben», sagt Evgenia Kara-Mursa, die mit den drei gemeinsamen Kindern (17, 14, 11) in den USA lebt. «Einem Regime, das einen Genozid-Krieg gegen die Ukraine gestartet hat, ist bei der Behandlung eines nicht genehmen Gefangenen alles zuzutrauen.»
So vergiftet der Kreml seine Feinde
Evgenia Kara-Mursa wirft Kremlchef Wladimir Putin (70) vor, «eine falsche Wirklichkeit» vortäuschen zu wollen. Doch könne der Diktator seinem Volk nichts vormachen. «Obwohl auch 1968 bei der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei nur gerade sieben Menschen auf dem Roten Platz in Moskau demonstrierten, vernahmen das Millionen von Russen.»
Die Russen seien über die Gräueltaten des Kremls sehr wohl im Bild. «Auch jene Millionen, die sich 1991 öffentlich über den Zusammenbruch der Sowjetunion und die gewonnene Freiheit freuten, sind noch da.» Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Gelegenheit komme, sich zu erheben und das Regime zu stürzen.
Zwei Giftanschläge überlebt
Wladimir Kara-Mursa gilt als einer der schärfsten Putin-Kritiker. Auf ihn wurden zwei Giftanschläge verübt, bei denen er schwer verletzt wurde. Im Mai 2015 erlitt er während einer Vortragstournee für die Kreml-kritische Organisation Open Russia nach dem Mittagessen in einem Moskauer Restaurant ein plötzliches Nierenversagen. Er wurde notfallmässig ins Spital eingeliefert und lag eine Woche im Koma.
Anfang Februar 2017 wiederholte sich das Ganze. Er erwachte um vier Uhr mit Atembeschwerden, Herzrasen und sehr tiefem Blutdruck. Bevor er ohnmächtig wurde, konnte er seine Schwiegereltern wecken.
Die Ärzte stellten beide Male eine schwere Vergiftung durch eine unbekannte Substanz fest. Zu Blick sagte Kara-Mursa in einem Interview vor fünf Jahren: «Innert Stunden haben alle meine wichtigen Organe versagt. Meine Überlebenschancen lagen bei fünf Prozent.»
Bewunderung der Partnerin
Wladimir Kara-Mursa ist 2022 mit dem Award for Courage von Axel Springer und dem Václav-Havel-Preis des Europarats ausgezeichnet worden. Mit dem mit 60’000 Euro dotierten Preis würdigt die Parlamentarische Versammlung des Europarats seit 2013 Engagement für Menschenrechte.
Die grösste Auszeichnung aber stammt von seiner eigenen Frau. Sie bewundere seine Ehrlichkeit, seinen Mut und seine moralische Stärke, die ihn trotz körperlichen Gebrechen am Leben erhalte, sagt Evgenia Kara-Mursa. Und mit zittriger Stimme und Tränen in den Augen sagt sie: «Wladimir ist mein Mann, mein Freund, mein Seelenverwandter. Ich weiss nicht, wie er das alles macht.»