Fehlschuss, Lügen, Nervosität – Experten analysieren Flugzeugdrama in Kasachstan
Wie der Absturz Putins Schwächen gnadenlos offenlegt

Der Kreml streitet es zwar ab, doch für Experten ist klar: Der Absturz einer aserbaidschanischen Maschine in Kasachstan ist auf eine russische Rakete zurückzuführen. Das Drama wird nicht das letzte gewesen sein. Es zeigt, wie das russische System versagt.
Publiziert: 27.12.2024 um 17:08 Uhr
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Aktualisiert: 28.12.2024 um 08:38 Uhr
Beim Absturz wurde die Maschine in zwei Hälften getrennt. Die Überlebenden sassen im Heck.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

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Guido FelderAusland-Redaktor

Es ist eine Horrorvorstellung für Flugpassagiere: Plötzlich explodiert neben der Maschine eine Rakete, deren Teile den Jet treffen und später zu dessen Absturz führen. Genau so dürfte sich am Mittwoch das Drama mit der Embraer 190 mit der Flugnummer J2-8243 der Aserbaidschan Airlines zugetragen haben.

Für die Fluggesellschaft sowie westliche Luftfahrtexperten ist klar, dass nicht – wie von der russischen Luftfahrtagentur Rosaviatsia anfänglich behauptet – ein Vogelschwarm die Ursache des Crashes war. Vielmehr dürfte es die russische Luftabwehr gewesen sein, welche die Passagiermaschine nicht von einer kleinen ukrainischen Drohne unterscheiden konnte und ins Visier genommen hatte.

Es ist ein Fehlschuss, der zeigt: Putins System zeigt verheerende Schwächen.

Auch Militärexperte Ralph D. Thiele (71), Autor des Buches «Hybride Kriegsführung – Zukunft und Technologien», geht von einem Abschuss aus. Gegenüber Blick sagt er: «Die Beschädigung der Kabine durch zahlreiche Partikel von aussen nach innen deutet mit grosser Wahrscheinlichkeit auf einen Beschuss mit einem modernen Luftverteidigungssystem – eine Rakete mit Sprengkopf und Abstandszünder – hin.»

Der mutmassliche Abschuss macht für Thiele deutlich: In Russland herrscht wegen der weitreichenden ukrainischen Drohnenangriffe Nervosität. «Das führt zu Fehlern wie diesem Abschuss. Weitere Fehler werden folgen», ist Thiele überzeugt.

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Einschlaglöcher am Flugzeug: Stammen sie von einer russischen Rakete?
Foto: IMAGO/Newscom / EyePress

Nervosität in Russland

Die Embraer war am Mittwoch nahe der Stadt Aktau in Kasachstan abgestürzt. Sie hatte sich auf dem Weg von Aserbaidschans Hauptstadt Baku nach Grosny in der russischen Teilrepublik Tschetschenien befunden und war wegen einer «Notlage» aufs offene Kaspische Meer ausgewichen. Der Absturz forderte 38 Tote. 29 Personen überlebten.

Aus dem Kreml hiess es am Freitagnachmittag, dass ukrainische Kampfdrohnen zu diesem Zeitpunkt «terroristische Angriffe» durchführten und daher aus Sicherheitsgründen sowie wegen Nebels keine Starts und Landungen in Grosny möglich gewesen seien.

Zur Frage, ob die Maschine durch eine Rakete oder Drohne getroffen wurde, gab es keine Angaben. Thiele: «Die Bereitschaft, aus Selbstschutz zu lügen, ist typisch für hybride Akteure und ohnehin symptomatisch für den Kreml.» Er ist überzeugt davon, dass es während der Abklärungen zu weiteren «Täuschungsnarrativen» kommen wird.

Das aserbaidschanische Internetportal caliber.az schreibt zudem von einer Notlandung, um welche die Piloten auf den nächstgelegenen russischen Flughäfen Mineralnyje Wody oder Machatschkala gebeten hätten. Diese sei verweigert worden, möglicherweise in der Absicht, die beschädigte Maschine beim Weiterflug ins Kaspische Meer stürzen und alle Spuren verschwinden zu lassen. Wenn diese Vermutung stimmt, würde dies die Durchlässigkeit von geheimen Informationen nach aussen zeigen.

Russen bekommen den Krieg zu spüren

Der Absturz beschert Präsident Wladimir Putin (72) auch innenpolitisch Probleme. Ulrich Schmid (59), Russland-Experte an der Universität St. Gallen, sagt gegenüber Blick: «Er signalisierte der russischen Bevölkerung, dass sie nichts vom Krieg in der Ukraine spüren würden. Nun kann er dieses Normalitätsversprechen nicht mehr einhalten.»

Denn weil in russischen Flughäfen nun die Sicherheitsmassnahmen hochgefahren würden und am Freitagmorgen der Betrieb in den Flughäfen Astrachan und Wolgograd beschränkt wurde, müssten russische Reisende grosse Behinderungen in Kauf nehmen.

Gefährliche Flugrouten

Dass zivile Fluggesellschaften solche gefährlichen Routen wählen, kann Thiele nicht verstehen. «Ähnlich wie beim Abschuss der MH17 vor zehn Jahren über der Ukraine muss man sich fragen, wie es Fluglinien verantworten, über Kampfgebieten mit einer aktiven Luftverteidigung mit Zivilmaschinen zu fliegen!»

Marcus Faber (40), Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag, warnt gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vor weiteren Zwischenfällen: «Alle zivilen Fluglinien sollten dringend das gesamte Kriegsgebiet meiden – also Überflüge über der Ukraine und Russland ausschliessen.» Israels Nationalairline El Al hat bereits reagiert und ihre Flüge nach Moskau für kommende Woche gestrichen.


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