Seit die ukrainische Armee die Stadt Butscha, in der Nähe von Kiew, wieder unter die eigene Kontrolle gebracht hat, veröffentlichen Journalisten und Augenzeugen immer mehr schreckliche Bilder und Details des Massakers. Zu sehen sind Menschen, die mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen, Zivilisten in Massengräbern, teilweise verkohlte Leichen auf den Strassen, leblose Körper in den Hinterhöfen oder ein Mann, der tot in einem Brunnen steckt.
Weil die Stadt so lange von der russischen Armee belagert wurde, liegt der Verdacht nahe, dass Putins Truppen für die Gräueltaten verantwortlich sind. Welche Einheiten genau hinter den Taten stecken, ist noch nicht klar.
Russland selbst weist die Vorwürfe von sich und spricht von einer «Inszenierung». Solche Anschuldigungen müssten «auf Grundlage konkreter, unwiderlegbarer Fakten» erhoben werden, sagt der Aussenminister Sergej Lawrow (72). Das Verteidigungsministerium nannte die Aufnahmen «eine weitere Provokation des Kiewer Regimes». Auch der russische Uno-Botschafter Wassili Nebensja (60) dementierte an der Pressekonferenz in New York am Montag jegliche Verwicklung der russischen Truppen.
Blick unterzieht die Argumente der russischen Regierung einem Faktencheck.
1. Die Leichen sind gar nicht echt
Am Sonntag hatte der Telegram-Channel «Krieg mit Fakes» die Theorie verbreitet, die Leichen in den Videos seien gar nicht echt. In einem Ausschnitt habe man sehen können, wie einer der angeblich Toten den Arm bewege und wenige Sekunden später sei im Seitenspiegel des Autos gar zu sehen, wie sich eine andere Leiche plötzlich aufrichte. Der offizielle Telegram-Kanal des russischen Verteidigungsministeriums repostete diese Nachricht.
Fakt ist: Schaut man sich die genannten Videos genau und in hoher Qualität an, stellt man fest, dass sich da weder Arme bewegen, noch Leichen plötzlich aufrichten. Das Portal «Mediazona» zeigt die Aufnahmen in Slow-Motion. Im ersten Fall handelt es sich um einen Lichtpunkt oder einen Wassertropfen an der Windschutzscheibe, der für einen Bruchteil einer Sekunde den Körper auf dem Boden verdeckt. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Krümmung des Seitenspiegels.
Bedeutet: Eine optische Täuschung ist dafür verantwortlich. Die Leichen sind echt und keine Schauspieler, die sich bloss tot stellen.
2. Zeitliche Chronologie
Die russischen Truppen seien bereits am 30. März aus dem Gebiet abgezogen worden, sagt der russische Botschafter Wassili Nebensja (60). Die angeblichen Beweise für Verbrechen der russischen Soldaten seien aber erst am 3. April aufgetaucht. Eine solche Verzögerung könnte darauf hindeuten, dass eine Provokation seitens der Ukraine vorbereitet wurde. Ausserdem habe der Bürgermeister der Stadt in einer Video-Ansprache zunächst keine Leichen erwähnt, was verdächtig sei.
Fakt ist: Am 29. März, nach den Gesprächen in Istanbul, kündigte der russische Verhandlungsleiter Wladimir Medinski (51) einen Teilrückzug der Truppen an. Am 1. April berichteten ukrainische Medien über den Rückzug. Der Bürgermeister der Stadt, Anatoli Fedoruk (49), hatte vor dem Rathaus ein Video aufgenommen, in dem er erklärt, die Russen hätten Butscha am 31. März verlassen. Das Video wurde Metadaten zufolge am 1. April um 15.48 Uhr aufgenommen. Warum er die Leichen nicht erwähnt, ist nicht klar. Möglicherweise hatte er zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis davon. Die Jablunska-Strasse, wo einige der Leichen gefunden wurden, liegt am Stadtrand, rund 45 Gehminuten vom Rathaus entfernt.
Ebenfalls am 1. April berichtete der russische Militärsender «Swesda», dass russische Fallschirmjäger und Marinesoldaten mehrere Tage lang «die feindlichen Kräfte in Richtung Gostomel, Butscha und Osera zurückhielten». Aus dem Bericht geht hervor, dass sich die Truppen bis zum 1. April zumindest am Stadtrand von Butscha aufhielten. Die Angaben der Behörden, wonach die Soldaten bereits am 30. März die Stadt verlassen hätten, würden also nicht stimmen.
Ausserdem tauchten die ersten Videos, die die Leichen zeigen, nicht etwa erst am 3. April auf, sondern bereits zwei Tage vorher. Die Metadaten zeigen, dass sie am 1. April um 16.40 Uhr aufgenommen wurden. Ein zeitlicher Abstand, der auf eine vorbereitete Provokation hindeuten würde, existiert praktisch nicht.
3. Die Leichen sehen verdächtig aus
Die Behauptung der russischen Regierung: Wären die Leichen tatsächlich so lange dort gelegen, hätten sie Verwesungsmerkmale aufweisen müssen. Zudem müssten sie nach so langer Zeit steif geworden sein. Ausserdem sei es verdächtig, dass man die Gesichter der Leichen nicht sehe.
Fakt ist: Nach den ersten Bildern, die von der ukrainischen Armee und Politikern veröffentlicht wurden, existieren mittlerweile zahlreiche andere Fotos, die die Journalisten vor Ort selber aufgenommen haben. Die Körper können nun aus vielen verschiedenen Blickwinkeln und bis ins kleinste Detail betrachtet werden. Auf den Aufnahmen sind ebenfalls die Gesichter zu sehen und auch Körper, bei denen – entgegen den Behauptungen – die Leichenstarre eingesetzt hat.
Ausserdem hat die «New York Times» US-Satellitenbilder veröffentlicht, die zeigen, dass einige Leichen bereits seit Mitte März auf den Strassen gelegen haben müssen. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt zweifelsfrei noch unter russischer Kontrolle. Ein Vorher-Nachher-Abgleich zwischen den Satelliten-Aufnahmen vom 19. März und dem viralen Video vom 2. April zeigt, dass die Leichen an den exakt gleichen Positionen auf der Strasse liegen.
Uno-Menschenrechtschefin Michelle Bachelet (70) fordert eine unabhängige Untersuchung zu möglichen Kriegsverbrechen. «Es sollte alles getan werden, um Beweise zu sichern», sagt die UN-Hochkommissarin. Alle Leichen sollten exhumiert, identifiziert und untersucht werden.
Berichte aus Butscha und anderen Gegenden würden «schwerwiegende und beunruhigende Fragen über mögliche Kriegsverbrechen» und andere Rechtsverletzungen aufwerfen, sagt Bachelet. «Für Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechenschaft muss alles unternommen werden, um die Vorgänge in Butscha unabhängig und erfolgreich zu untersuchen.» Bachelet fordert zudem Entschädigungen und Wiedergutmachung für die Opfer und ihre Familien.