Die Bilder von den Leichen in der ukrainischen Kleinstadt Butscha gingen um die Welt. Hunderte ukrainische Zivilisten wurden durch russische Soldaten exekutiert, unschuldige Frauen wurden vergewaltigt und verbrannt. Während die Welt sich entsetzt zeigt, bleibt es in Russland ruhig. Keine grossen Proteste, kein lautstarker öffentlicher Widerstand gegen die Gräueltaten der russischen Armee.
Nur ein einzelner Mann traut sich, auf das Massaker aufmerksam zu machen. Bilder seiner Protest-Aktion werden im Internet geteilt. Darauf zu sehen ist, wie er mit gefesselten Händen auf dem Bauch liegt. Das Gesicht ist von der Kamera weggedreht. Genauso wurden einige Leichen in Butscha entdeckt. Sie waren gefesselt und lagen erschossen auf der Strasse.
Ob er inzwischen verhaftet wurde, ist unklar. Es ist aber wahrscheinlich. Denn Kreml-Chef Wladimir Putin (69) geht erbarmungslos gegen Proteste vor. Anfang März hatte Russlands Präsident ein Gesetz unterzeichnet, das drakonische Haftstrafen bei «Falschinformationen» über die russische Armee vorsieht. Ausserdem haben die russischen Behörden seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine den Zugang zu Online-Medien und Online-Netzwerken massiv eingeschränkt. Offiziell darf nicht von Krieg gesprochen werden. Der Kreml bezeichnet den Ukraine-Krieg als «militärische Spezial-Operation.»
Paradoxe Lügen über Schauspieler und Entnazifizierung
Putin kontrolliert die Berichterstattung in seinem Land über den Krieg. Kurz nach der Veröffentlichung erster Bilder und Videos aus Butscha, die Leichen zeigten, schaltete sich der Propagandaapparat ein. Etliche russische Medien berichteten davon, dass es sich bei den Bildern um Fälschungen handle. Experten behaupteten, sie hätten gesehen, wie sich die Leichen bewegten, da diese in Wirklichkeit Schauspieler seien, wie der «Spiegel» berichtet.
Es gab aber auch staatsnahe Medien, die die Leichen als echt anerkannten. So zum Beispiel die russische Zeitung «Komsomolskaja Prawda». Sie bestätigte die Echtheit der Leichen, behauptete gleichzeitig aber, dass die Ukraine selbst diese Menschen ermordet habe, um das Kriegsverbrechen Russland anhängen zu können. Der russischen Bevölkerung wurde somit eine Reihe von Theorien zum Butscha-Massaker angeboten, welche die Unschuld Russlands nahelegten.
Die russische Nachrichtenagentur «Ria Nowosti» führte eine weitere Erklärung an, die Wladimir Putin gefallen dürfte. Unter dem Titel «Was Russland in der Ukraine tun muss» veröffentlichte sie am Sonntag einen Beitrag, in welchem eine gründliche Entnazifizierung der Ukraine als Grund für das Massaker in Butscha angeführt wird. Der Beitrag wurde von Timofej Sergejzew verfasst, der unter anderem den früheren ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch (71) beriet.
Grossteil der Russen steht hinter Putin
Unter dem Vorwand der Entnazifizierung rechtfertigen auch russische Soldaten die Gräueltaten in Butscha. Auf Twitter kursiert derzeit das Bild einer Frau, auf deren Bauch ein Hakenkreuz zu sehen ist. So wurde behauptet, dass sie sich in einer Basis des neonazistischen Regiment Asow befunden habe. Die Ukrainerin war aber wohl eher eine unschuldige Frau, die vergewaltigt und getötet wurde. Das Hakenkreuz wurde ihr vermutlich erst später als Rechtfertigung für die Tat verpasst.
Die absurde Propaganda von Kriegsführer Wladimir Putin scheint zu verfangen. Laut dem staatlichen Umfrageinstitut «WZIOM» heissen derzeit 79 Prozent der Befragten den Krieg in der Ukraine gut, während es zu Kriegsbeginn noch 70 Prozent waren. Zugegebenermassen ist dieses Institut nicht allzu vertrauenswürdig, doch auch unabhängige Organisationen bestätigen diesen Trend. Der Grossteil der Russen steht hinter Putin und dem Ukraine-Krieg.
So berichtet das unabhängige Meinungsforschungsinstitut «Lewada», dass mittlerweile eine höhere Zustimmung für den Ukraine-Krieg gemessen wird – oder die «militärische Sonderoperation», wie Putin es nennt. Konkret befürworteten 53 Prozent der Befragten die Invasion in der Ukraine bedingungslos, weitere 28 Prozent stehen ihr «eher positiv» gegenüber. Die Aussagekraft von Umfragen in Russland ist aber dennoch kritisch zu betrachten, da die Menschen durch die Propaganda falsch informiert werden und Angst haben, ihre Meinung kundzutun. (obf)