Die Verschleppung von Menschen ist eines der grausamen Verbrechen dieses Krieges. Laut der Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, Lyudmila Denisova (61), sind fast 1,2 Millionen Ukrainer, darunter rund 200'000 Kinder, in die Russische Föderation deportiert worden. Dies sagte sie in einem Interview mit Blick vergangene Woche: «Er (Putin) missbraucht sie für Propaganda. Er gibt an, dass sie aus der Ukraine fliehen mussten und er sie schützen müsse. Aber die Welt hat ihn durchschaut und weiss, dass es nicht stimmt.»
Auch diverse weitere Berichte bestätigen das russische Vorgehen. Demnach öffnet Russland beispielsweise Fluchtkorridore in attackierten Städten für die Zivilbevölkerung. Diese führen aber nur in eine Richtung: in den Osten. In anderen Fällen werden Ukrainer gewaltsam nach Russland gebracht.
«Russland hofft, dass sie vergessen, wo ihr Zuhause ist»
Was mit den Menschen danach passiert, ist nicht bekannt. Möglicherweise werden sie zur Zwangsarbeit verdonnert. Möglich ist auch, dass viele von ihnen ihre Heimat nie wieder sehen.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) hatte das Vorgehen von Putin und seinen Truppen unlängst scharf kritisiert: «Unter anderem deportieren sie Kinder – in der Hoffnung, dass sie vergessen, wo sie herkommen, wo ihr Zuhause ist.»
Ideologien werden geprüft
Der Schrecken von Deportationen ist seit dem Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig. Damals wurden Millionen Juden in Züge gesteckt und in Konzentrationslager gebracht, aus denen sie nie zurückkehrten. Putin aber könnte ein anderes Vorbild haben, das damals gegen Nazi-Deutschland kämpfte: Josef Stalin (1878–1953).
«Die Paranoia, die Stalin hatte, weil er in jedem einen Kollaborateur der Nazis sah, wird jetzt wiederbelebt», sagt der Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder (64) dem Magazin «Focus». Heinemann-Grüder verweist auf die sogenannten Filtrationslager. In diesen Lagern würden Ukrainer, die sich in den russisch kontrollierten Gebieten befinden, genauestens untersucht. Etwa, indem ihre Handys durchforstet werden. Auf diese Weise würden die Russen mutmassliche ukrainische Nazis und Mitarbeiter von Sicherheitsorganen oder Beamte aufspüren wollen. Wer russische Ideologien vertritt, erhalte Passierscheine und dürfe in der Region bleiben. Wer die Prüfung in den Augen des russischen Geheimdiensts FSB nicht bestehe, würde weit weg von der Grenze gebracht werden. «Und oft weiss niemand, wohin», sagt Heinemann-Grüder.
Dieses Vorgehen nannte auch Lyudmila Denisova gegenüber Blick und wird von weiteren Untersuchungen bestätigt.
«Es geht um die Zerstörung der ukrainischen Identität»
Jan Claas Behrends (52), Professor für Osteuropäische Geschichte am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, sagt gegenüber «Focus», dass Russland mit den Deportationen ein klares Ziel verfolge: «Es geht um die Zerstörung der Kultur und Identität der Ukrainer.» Auch er nennt dabei Stalin als Vorbild Putins.
Der sowjetische Diktator deportierte in den 1930er- und 1950er-Jahren jeden, der gegen seine Politik war – um sich seiner Kritiker zu entledigen und seine Macht zu stärken.
Auch in der Schweiz fanden bis ins 18. Jahrhundert Deportationen aus religiösen Gründen statt. Hier waren es die Mennoniten, die vor allem im Kanton Bern mit Hilfe von staatlichen Täuferkammern und Täuferjägern festgesetzt und ausgewiesen wurden, mit dem Ziel das eigene Territorium täuferfrei zu machen. (vof)